//

Romane waren der fehlende Rest

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Jürgen Becker

Als »eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« wurde Jürgen Becker vor drei Jahren völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde. Von PETER MOHR

Jürgen Becker - Graugänse über Toronto»Ob das einundderselbe Autor ist, mag sich der Leser fragen, der in diesem Buch zu blättern beginnt und gleich auf so unterschiedliche Textformen und Schreibweisen stößt«, schrieb Becker im Nachwort seines vor fünf Jahren erschienenen Prosa-Sammelbandes ›Wie es weiter ging‹, der Texte aus mehr als vierzigjähriger schriftstellerischer Tätigkeit vereint.

»Sie lesen nur Mitteilungen aus meinem Erfahrungsbereich; das ist die Stadt, mein tägliches Leben, die Straße, die Erinnerung. All das reflektiere ich in einer jeweils veränderten Sprechweise«, schrieb Jürgen Becker 1964 über seinen Prosaband ›Felder‹ in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Hans Magnus Enzensberger. An dieser dichterischen Maxime Beckers, der 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47 war, hat sich bis heute nichts geändert. Neben Verlagstätigkeiten bei Rowohlt und Suhrkamp und als Hörspielredakteur beim Deutschlandfunk hat der gebürtige Kölner sich vor allem als Lyriker und Hörspielautor einen Namen gemacht.

Seit fast vierzig Jahren lebt Jürgen Becker in einem 200 Jahre alten Fachwerkhaus in Odenthal am Rande des des Bergischen Landes, wo er heute* seinen 85. Geburtstag feiert. Ein idyllischer Rückzugspunkt, der viele Jahre einen Gegenpol zu seiner Arbeit im Hochhaus des Deutschlandfunks in Köln bildete und gleichzeitig Erinnerungen an die Kindheit bei seinen Großeltern im Bergischen wach hält. Kein Wunder, dass einer von Beckers schönsten Lyrikbänden den Titel ›Odenthals Küste‹ (1986) trägt.

»Ich wäre gern Maler geworden, hätte ich nur die Begabung gehabt«, erklärte Becker einst in einem Interview. Die Malerei ist dem Autor dennoch sehr nahe, denn seit 52 Jahren ist Jürgen Becker mit der renommierten Künstlerin Rango Bohne verheiratet.

Die letzten Jahre bilden noch einmal eine künstlerische Zäsur in Beckers Werk. Über Jahrzehnte hatte der Heinrich-Böll-Preisträger die Lyrik und das Hörspiel favorisiert und offensichtlich sein erzählerisches Talent verkannt. 1997 erschien der glänzende Prosaband ›Der fehlende Rest‹. Die schmale Erzählung las sich wie ein Werkstattbericht aus dem Hinterkopf eines hochsensiblen Lyrikers, der uns Einblicke darüber gewährt, wie ein Gedanke den Weg aufs Papier findet. Und der Titel könnte aus zwei Gründen durchaus programmatischen Charakter haben – als sinnstiftende Ergänzung zu Jürgen Beckers Lyrik oder aber als spät entdeckte Liebe zur Prosa.

1999 bewies Becker mit seinem ersten Roman ›Aus der Geschichte der Trennungen‹ endgültig, dass er auch ein vorzüglicher Erzähler ist. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung entstand ein aus vielen Episoden zusammengefügtes Panorama der Disharmonien im Nachwendedeutschland. Darin heißt es: »In vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen.« Beckers schmerzlicher Befund, den er seiner autobiographisch gefärbten Hauptfigur Jörn Winter(auch Protagonist in ›Der fehlende Rest‹ und im Band ›Die folgenden Seiten‹, 2006) in den Mund legt.

Heute wissen wir: ›Der fehlende Rest‹ – bezogen auf Jürgen Beckers umfangreiches Oeuvre – waren die späten Romane, diese sprachlich hochsensiblen Reflexionen eines Autors, der stets seine eigene Erfahrungswelt zum literarischen Sujet gemacht hat. In ›Schnee in den Ardennen‹ (2003) hockt die Hauptfigur in der Dachkammer eines abgelegenen Gehöfts und berichtet von ihren Imaginationen.

Die Grenzen von Lyrik und Prosa lässt Jürgen Becker auch in seinem jüngsten Band ›Graugänse über Toronto‹ wieder gekonnt verschwimmen. Der Meister der Alltagspoesie widmet sich darin so unterschiedlichen Themen wie Videoüberwachung auf einer Hühnerfarm, den Auswüchsen in sozialen Netzwerken und der Frage nach der Qualität von Anzeigenblättern.

| PETER MOHR
| TITELFOTO: Hpschaefer www.reserv-art.de, Becker, Juergen-Schriftsteller-1109, CC BY-SA 3.0

Titelangaben
Jürgen Becker: Graugänse über Toronto
Journalgedicht
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017
92 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kraft besteht nicht ohne Optimismus

Nächster Artikel

Wenn der Eismann zweimal klingelt

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Wir alle sind Fiktion

Kulturbuch | Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen Schreiben kann ein hochkonzentrierter und selbstvergessener Zustand sein, wenn man es schafft, die innere Zensur zu überlisten. Doris Dörrie scheint eine Meisterin darin zu sein. Ihr neuestes Buch ›Leben, schreiben, atmen‹ klingt wie ein Mantra und verheißt doch eine spannende Schule der Wahrnehmung. Von INGEBORG JAISER

Gefangen zwischen Konsum und Terror

Menschen | Zum Tode des Schriftstellers Juan Goytisolo »Wir leben gefangen zwischen Konsum und Terror«, hatte Juan Goytisolo anlässlich der Veröffentlichung seines Romans ›El exiliado de aquí y de allá‹ (2008) erklärt, in dem er heftige Kritik an den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen im zeitgenössischen Spanien übte. PETER MOHR über einen der wichtigsten Autoren der spanischsprachigen Nachkriegsliteratur.

Politisch nicht opportun

Menschen | Wolfgang Held: Ich erinnere mich Bevor man Wirklichkeit erkennt, muss man den Informationsmüll beiseite räumen, den Mainstream täglich auswirft, und es ist nicht bloß Müll, es ist Manipulation, es ist Täuschung, wer findet sich da zurecht, oh weh, Ende Gelände. Wir arbeiten die Dinge auf, so nennen wir das, wir bahnen uns einen Weg durch dichtesten Nebel, überall herrscht »schlohweißer Tag« (Tamara Danz). Von WOLF SENFF

Allzeit unzeitgemäß

Menschen | ›Das Schattengetuschel‹ – der neue Band zum 80. Geburtstag von Botho Strauß am 2. Dezember

»Für mich wäre es das Schlimmste, aufs Schlimmste nicht gefasst zu sein«, schreibt Botho Strauß in seinem neuen, ohne Genrebezeichnung veröffentlichten Band ›Schattengetuschel‹. Das Buch besteht aus drei mehr oder weniger zusammenhanglosen Teilen. Zu Beginn begegnen wir kunstvoll arrangierten Prosa-Miniaturen, der essayistisch geprägte Mittelteil kreist um poetische Fragen und das Selbstverständnis als Dichter, den Abschluss bilden brillant pointierte, messerscharfe Aphorismen. Von PETER MOHR

Wanderer zwischen den Welten

Comic | Ein Interview mit Jeff Lemire Unter den kanadischen Gästen, die dieses Jahr auf dem Comicsalon in Erlangen mit einer eigenen Ausstellung ihr Werk vorstellten, war neben einigen hierzulande noch kaum bekannten Künstlern ein Name, an dem man seit nun fast einem Jahrzehnt nicht mehr vorbeikommt, wenn man sich für moderne Comics interessiert: Jeff Lemire. Man kennt ihn als eigenwilligen Zeichner von Graphic Novels ebenso wie als Autoren von Superheldencomics mit einem sensationell hohen Output. BORIS KUNZ wollte schon lange wissen, wie der Kerl das anstellt, und hat ihn deshalb zum Interview getroffen.