Roman | Jonas Lüscher: Kraft
Die Theorie klingt sagenhaft einfach: Eine Million Dollar für denjenigen Wissenschaftler, der die große Preisfrage der ›Theodizee‹ nach ›Leibniz‹ löst. Für den Rhetorikprofessor Kraft eigentlich ein Kinderspiel und die ideale Antwort auf seine privaten Probleme. Wäre er nicht selbst wie die Welt aus dem Gleichgewicht geraten. Von MONA KAMPE
»Entweder will Kraft die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Kraft ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg? Weil es ihm an Optimismus fehlt.« Jener euphorische Zustand und die Zuversicht, die nötig wäre, um die wissenschaftliche Preisfrage zu lösen, zu deren Teilnahme ein alter Studienfreund Kraft bewegt hat.
So steht Richard Kraft, Rhetorikprofessor aus Tübingen, nun vor der für ihn weltbewegenden Aufgabe, in einem 18-minütigen Vortrag die ›Theodizeefrage‹ in Anlehnung an die ›Monadologie‹ der bestmöglichen Welt aller Welten, in der wir leben, von Gottfried Wilhelm Leibniz am besten zu erklären. Warum ist alles gut und warum können wir es trotzdem immer noch besser machen? Jede Form des Übels ist letztlich notwendig und erklärbar, oder?
Kann er die große Frage im Sinne des Internet-Moguls Erkner, der sie ausgeschrieben hat, optimal lösen, winken ihm die eine Millionen Dollar Preisgeld, mit der er sich und seine Mitmenschen aus der Welt des eigenen Übels befreien könnte – von seinem Schuldenberg und seiner unglücklichen Ehe. Es bleiben ihm zwei Wochen bei seinem Freund István im kalifornischen Silicon Valley – 14 Tage voller wahnwitziger Theorien, schlafloser Nächte, abenteuerlicher Überlebenskämpfe, Erinnerungen und Entdeckungen. Doch die bahnbrechende Erkenntnis bleibt aus.
Ähnlich wie damals, als er seine Dissertation schrieb, die sich damit befasste, warum der Fuchs viele Dinge wisse, der Igel aber nur eine große Sache, und sich zur Aufgabe machte, diese Kluft zwischen beiden Wesensarten historisch zu begründen. Kraft, der »Oberigel«, dessen Welt nur ein universales Prinzip Bedeutung verleiht, der verzweifelt versucht, die schlauen, weltoffenen Füchse, die die Vielfalt der Welt um ihrer selbst willen ergreifen und leben, als hellsichtiger darzustellen. War er selbst doch immer davon überzeugt, selbst ein Fuchs zu sein.
»Wo die Kraft nicht reicht, kommt die Täuschung hinzu«
Sein Weggefährte Istvàn hatte einst schon eine gute Lösung parat: »dass die wahren Füchse, und solche seien die beiden doch zweifellos, eben unter all den Dingen, die sie wüssten, auch die eine Sache wüssten, die der Igel wisse, nur nicht, wie es sich anfühle, ein Igel zu sein. Trotzdem könne man sich ja, wenn es darauf ankomme, wie ein Igel verhalten. Der Welt den Rücken zukehren und die rhetorischen Stacheln aufstellen«. Und genau wie damals lebt der heutige Stanford-Dozent, der sich mit einer »Legende« von seinen ungarischen Flüchtlingswurzeln befreite, seine Weltoffenheit, bezieht jedoch auch einen klaren Standpunkt, wenn er die Prinzipien der Freiheit gefährdet sieht.
Ebenso beneidenswert empfindet Kraft den Privatgelehrten und Kollegen Bertrand, der mit Leichtfüßigkeit, Reflexion und Charme durchs Leben geht, aber wenn es darauf ankommt, »ein ausgesprochen streitbarer Geist« ist. Auch er ist nach San Francisco gekommen, um an der Millionentagung teilzunehmen, allerdings als »Untergangsprophet«, denn jemand müsse ja diese Rolle übernehmen.
Und plötzlich weiß Kraft, was ihn am leichtfüßigen, optimistischen Gang des Fuchses hindert – eine elende Frage, die er seit Jahren mit sich herumträgt: »Ach, Johanna, womit habe ich dich nur so wütend gemacht«?
Fesselndes Mosaik der Gedankenreflexion mit Pointe
Dem Gelehrten Jonas Lüscher gelang im Januar 2017 mit ›Kraft‹ ein beeindruckendes Romandebüt. Im Februar führte das Werk des Schweizers bereits die Bestenliste des ›SWR‹ an. Der Autor besticht mit einer kühlen, teils sarkastischen, aber unglaublich fesselnden, reflektierenden Erzählung, die wie ein Mosaik aus erklärenden Rückblenden, gegenwärtigen Ereignissen und drastischen Visionen am Ende ein Gesamtbild schafft, das dem Protagonisten Kraft für eine unerwartete Befreiung aus seiner Misere gibt.
Der Leser wird Teil von Krafts Welt und muss sich mit seinen philosophischen, politischen, wirtschaftlichen, emotionalen und alltäglichen Gedanken auseinandersetzen – sowie Kraft mit der Lösung der großen Preisfrage. In Lüschers Roman treffen Kontraste aufeinander, die es für den Professor und seine Zuhörer zu bewältigen gilt: Altes Europa und ›New Economy‹, analoge Welt und digitale Transformation, Freiheit und Kapitalismus, Mensch und Maschine.
Und schließlich stellt sich da noch die Frage: Sind die eine Millionen Dollar ein würdiger Preis für Krafts Freiheit?
Titelangaben
Jonas Lüscher: Kraft
München: C.H. Beck 2017
237 Seiten, 19,95 Euro
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