Mit dem Pony durch den Tulpenwald

Roman | Martin Walser: Gar alles

Martin Walser schreibt und schreibt – mit nach wie vor atemberaubendem Tempo und bemerkenswerter formaler Brillanz. In seinem neuen Briefroman lässt der Grandseigneur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der seinen 91. Geburtstag feierte, einen auf bemitleidenswerte Weise gescheiterten Mann mittleren Alters Briefe an eine unbekannte Frau schreiben. Von PETER MOHR

Justus Mall war einst Oberregierungsrat in einem bayrischen Ministerium und ist als Grapscher in der Pause einer Tristan-Aufführung unangenehm aufgefallen und öffentlich an den Pranger gestellt worden. Er wurde vorzeitig in den Ruhestand versetzt und schreibt seitdem philosophische Bücher (Die Lüge als Mutter der Wahrheit und Der Irrtum als Erkenntnisquelle).

Walser - Gar alles»Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.« Diese aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz zog Martin Walser bereits in seinem 2016 erschienenen Roman Ein sterbender Mann, der ebenso wie sein im letzten Jahr erschienenes Werk Statt etwas oder Der letzte Rank als künstlerische Gratwanderung zwischen Erzählung, Philosophie, Autobiografie und selbstironischem literarischen Verwirrspiel daher kam.

Es geht auch nun wieder um die Probleme des Älterwerdens, des gravierenden Auseinanderklaffens zwischen körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit und der nie versiegenden Begierde im Kopf. Martin Walser liefert wie in den vorangegangenen Büchern wieder eine ellenlange Selbstbefragung, Justus Malls Briefe lesen sich wie ein imaginärer Dialog mit seinem Spiegelbild.

Da gibt es eine Silke mit »goldblonder Haarpracht« und »himmelblauen Augen, so blau waren noch keine Augen«, und deren Mund ist »ein wohlgeschwungener, aber schwerer Vorhang für ein gleißend weißes Zähnetheater.« Ist das Poesie oder Kitsch? Meint Walser das ernst oder treibt er – und dieser Verdacht drängt sich rasch bei der Lektüre auf – ein ausgeklügeltes Verwirrspiel mit dem Leser?

Walser, der »Intendant« des »Zähnetheaters«, darf das also, er hat es sich selbst erlaubt, aber zur Ehre gereichen ihm solche Spiele mit platten Klischees nicht. Man fühlt sich ein wenig vom Autor an der Nase herumgeführt, er jongliert zwischen Tiefsinn und Albernheiten hin und her, die Grenzen drohen dabei zu verschwimmen. Händeringend fragt man sich als Leser, was hinter Justus Malls Traum steckt, als er »auf einem Pony durch einen Tulpenwald reitet, vom Chianti singt, bis er merkt, dass er aufs Klo muss.«

Der Protagonist macht sich mehr oder weniger ernsthafte Gedanken über Borkenkäferbefall an Bäumen, Beulen beim Ausparken, einen schwulen Theaterautor und über Demenz als »Erlösung«. Hier und da trumpft Walser dann aber auch wieder mit messerscharfen Aphorismen auf: »Erst wenn du niemanden mehr hast, dem du etwas vorwerfen kannst, näherst du dich dir selbst.«

Die kurzen Brieffragmente verbindet ein melancholisch-selbstironischer Tenor, wir lesen eine auf Hochglanz polierte Schlussstrich-Prosa. An einer Stelle glaubt man durch Justus Malls Stimme ganz nah bei Martin Walser zu sein: »Ich darf befürchten, dass ich manchmal Angst habe, mir werde nichts mehr einfallen, was ich verkaufen kann.«

Dieses schmale Walser-Büchlein weckt Analogien zur Sterne-Küche – alles ist fein arrangiert, erlesene Zutaten sind verarbeitet, aber richtig satt wird man dennoch nicht. Im Text heißt es: »Der Triumph der Form über den Inhalt. Das Dinner als Zeremonie des Überflüssigen.«

Am Ende ist man sich als Leser ziemlich sicher, dass Martin Walser einen kunstvollen Schabernack mit seinen Lesern treibt. »Mall könne schreiben, aber er habe keine Einfälle«, heißt es über die Hauptfigur. Genauso liest sich das vorliegende Stück Prosa.

Die Kunst des Schreibens wird von Walser beinahe rituell zelebriert, die Wörter (mal erhitzt, mal schock-gefroren) zu philosophischen Sentenzen drappiert – hier eine Volte, da ein Spagat: Walser dirigiert die Sätze wie ein Ballettmeister, und er gefällt sich dabei in der Rolle des allwissenden Taktgebers, der wie ein Dompteur in der Arena des Lebens steht und die Wörter und Sätze vor den Augen seiner staunenden Leser durch den brennenden Ring springen lässt.

Immer ist uns der allmächtige Erzähler Walser einen Schritt voraus, denn die Interpretationshilfe zu diesem Erzählbrevier lieferte er schon auf Seite 9: »Das heißt zum Glück alles und nichts.« An dieser wunderschön arrangierten Inhaltsleere kann man sogar Spaß haben, aber nur (und nur dann!!), wenn man Gar alles nicht ernst nimmt, sondern lediglich als kunstvolles Spiel liest.

| PETER MOHR

Titelangaben
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Reinbek: Rowohlt Verlag 2018
107 Seiten, 18 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Martin Walser in TITEL kulturmagazin

 

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Wunsch nach Normalität

Nächster Artikel

Eiskalte Steampunks

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ein Jahr nach dem großen Morden

Roman | Chris Hammer: Outback Rivers End, eine Kleinstadt im australischen Nordosten. Noch ein Jahr nach dem grausamen Verbrechen weiß niemand genau, warum der junge Pfarrer Byron Swift vor dem sonntäglichen 11-Uhr-Gottesdienst mit einem Gewehr aus seiner Kirche trat und fünf Männer erschoss, um dann selbst unter den Kugeln aus der Waffe eines Polizisten zusammenzubrechen. Von DIETMAR JACOBSEN

Ich gehe, daher bin ich

Roman | Mike Markart: Der dunkle Bellaviri

Welcher Schriftsteller wünscht sich nicht einmal eine Zeit lang als Stipendiat in einer römischen Villa zu leben und sich ganz dem kreativen Schaffen zu widmen. In Gärten zu flanieren, an Brunnen zu sitzen und den Caffé am Morgen in einer kleinen Bar zu nehmen. Der Musenkuss scheint hier doch obligatorisch. Dass dabei trotz allem nicht immer nur künstlerischer Müßiggang herrscht, kann Mike Markart in seinem neuesten Italienroman Der dunkle Bellaviri bestätigen. Der Grazer Autor zeichnet ein Italien abseits der hell erleuchteten Fassaden, sein Blick dringt tief ins Innere des schöpferischen Ichs. Empfohlen von HUBERT HOLZMANN

Gestörte Entsorgung

Krimi | Wolf Haas: Müll

Wie der Simon Brenner zu Beginn seines neunten Abenteuers unter die Mistler geraten ist, verschweigt Wolf Haas dem Leser. Der ist allerdings schon dankbar, dass es den Brenner überhaupt noch gibt. Denn geschlagene acht Jahre hat er nichts von sich hören lassen. Und auch sein Erfinder (Jahrgang 1960) hat nur auf der Hälfte dieser Zeitspanne, also 2018, mit dem schmalen, autobiographisch inspirierten Roman Junger Mann darauf aufmerksam gemacht, dass es ihn (als Autor) noch gibt. Doch nun: dank des Zusammenspiels von Pandemie und Platzangst im Homeoffice ein neuer Brenner. Und Mistler oder nicht Mistler: Auf den Inhalt kommt es beim Haas eigentlich sowieso kaum an. Anders als beim Brenner, denn: »Für den Brenner das Inhaltliche eigentlich im Vordergrund.« Von DIETMAR JACOBSEN

Vielstimmige Collage

Roman | Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren

»Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern«, lässt die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla einen Chor aus unterschiedlichsten Stimmen zu Beginn ihres collageartigen Romans über den NSU-Prozess sagen. Von PETER MOHR

Erlendurs erster Fall

Roman | Arnaldur Indriðason: Nacht über Reykjavík Mit seinem neuen Roman ›Nacht über Reykjavík‹ setzt Islands Krimiautor Nummer 1 fort, was er mit dem Roman ›Duell‹ (2013) begonnen hat: einen Rückblick auf die ersten Dienstjahre des Helden jener 11-teiligen Serie, mit der er zwischen 1997 und 2010 seine Heimatstadt zu einem europäischen Krimischauplatz machte. War Erlendur Sveinsson in der Geschichte um das »Match des Jahrhunderts« zwischen den Schachgiganten Boris Spasski und Bobby Fischer 1972 in Reykjavík allerdings nur eine von vielen Nebenfiguren, löst er im vorliegenden Buch seinen ersten wirklichen Fall. Und darf sich am Ende sogar Hoffnung machen, in