/

Reiko Himekawas zweiter Fall

Roman | Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht

Mit Blutroter Tod hat der S. Fischer Verlag vor Jahresfrist damit begonnen, die in Japan äußerst erfolgreiche Thrillerreihe um Tokios jüngste Polizistin Reiko Himekawa auch deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die ersten Reaktionen der Kritik lasen sich verheißungsvoll. Nun liegt mit Stahlblaue Nacht – Der deutsche Titel des nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen übersetzten Romans ist schlichtweg scheußlich! – Band 2 der Serie vor. Er steht seinem Vorgänger weder an Spannung noch an der raffinierten Konstruktion des Erzählten nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Es beginnt mit Leichenteilen. Eine blutverschmierte Hand auf der Ladefläche eines Kleintransporters. Später ein Torso im Uferbereich des Flusses Tama. Kopf und Extremitäten der männlichen Leiche fehlen zunächst. Dennoch scheint ihre Identität von Beginn an unzweifelhaft. Denn der Transporter gehörte zu einer kleinen Firma, die der Architekt und selbständige Bauunternehmer Kenichi Takaoka zusammen mit einem jungen Mann betrieb, der in der leeren Garage seines Förderers eine große Blutlache entdeckte und daraufhin die Polizei rief.

Also alles klar? Takaoka das Opfer und jemand aus seiner Umgebung der Täter? Keineswegs. Denn die Untersuchung des Falls bringt vorerst kaum relevante Ergebnisse. Aber die Tokioter Mordkommission besitzt ja eine Geheimwaffe. 29 Jahre ist die alt, weiblich, nicht unkompliziert und so intelligent wie gewitzt. Ihr Name: Reiko Himekawa. Und kaum beginnt die junge Frau mit ihrem Team zu ermitteln, da lösen sich scheinbare Gewissheiten schnell auf und eine überraschende Entdeckung folgt auf die nächste.

Ein Leichenteilpuzzle

Tokio braucht Platz für Leute, die sich in der Millionenstadt teuren, luxuriösen Wohnraum leisten können. Also muss Altes möglichst schnell verschwinden, müssen ganze Viertel plattgemacht, die Ansässigen mit teils üblen Methoden vertrieben und Baufirmen gefunden werden, denen Arbeitsschutz und Gesundheit ihrer Angestellten weniger wichtig sind als ihr Profit. Eine Gemengelage, zu der das organisierte Verbrechen der Yakuza-Clans vorzüglich passt.

Bei ihren Ermittlungen stößt Reiko Himekawa denn auch nur allzu bald auf einen dubiosen Charakter namens Makio Tobe, dessen Mutter mit einem der Yakuza-Bosse verheiratet ist. Sollte er, der mit erpresserischen Methoden Menschen in den Tod treibt, um deren Versicherungen zu kassieren, Takaoka ermordet haben? Und was hat es damit auf sich, dass sowohl der Vater von Takaokas Schützling und Mitarbeiter Kosuke Mishima wie auch jener von dessen Freundin Michiko Nakagawa Bauarbeiter waren, die bei mysteriösen Arbeitsunfällen ihr Leben ließen?

Stahlblaue Nacht ist alles in allem noch ein bisschen raffinierter ersonnen als der erste Roman der Himekawa-Reihe Blutroter Tod. Immer, wenn der Leser denkt, sich gemeinsam mit den Tokioter Mordermittlern endlich auf der richtigen Spur zu befinden, lässt Tetsuya Honda eine Wendung eintreten, die alles Erreichte wieder infrage stellt. Und als ein alter Schulfreund von Kenichi Takaoka gar behauptet, dass der Mann, den diejenigen, die mit ihm in Berührung kamen, als Takaoka kannten, gar nicht Takaoka war, beginnt nicht nur die Suche nach dem Mörder und seinem Motiv wieder ganz von vorn, sondern auch die Identität der zerstückelten Leiche steht plötzlich zur Disposition.

Wer ist Kenichi Takaoka?

Natürlich ist es Reiko Himekawa, die aus all den widersprüchlichen Fakten, die diesen Fall ausmachen, letztlich die richtigen Schlüsse zieht und einen Mörder überführt, dem sie sich innerlich näher fühlt, als ihr lieb ist. Dass es bis zum Finale einer Menge akribischer Ermittlungsarbeit bedarf, die der Roman detailliert beschreibt, macht eine seiner Qualitäten aus. Und jenen Lesern, denen über all den informellen Konferenzen der Ermittler und deren strapaziösen Fußmärschen durch die japanische Metropole zu einer Zeugenbefragung nach der anderen ein wenig die Action fehlt, liefert ein bis ins Detail gehender Rückblick auf den Ablauf des Mordes am Ende des Romans Bilder, die sie nicht so schnell wieder loswerden dürften.

Ärgerlich ist freilich, dass das dem Roman vorangestellte Verzeichnis der Handelnden nicht unbedingt zuverlässig ist. Während es nämlich nach wie vor Personen enthält, die bereits in Band 1 der Himekawa-Serie brutal zu Tode kamen, verschweigt es dem Leser den einen oder anderen neu Hinzugekommenen und stiftet so mehr Verwirrung, als es von Nutzen ist. Vielleicht könnte eine nächste Auflage hier für Abhilfe sorgen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht
Aus dem Englischen von Irmengard Gabler
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2017
424 Seiten. 10,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Daumen drücken für Alan Cole

Nächster Artikel

Supermans arme Väter

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Schicksale, die sich kreuzen

Roman | Merle Kröger: Havarie Nachdem Merle Kröger mit ihrem letzten Roman ›Grenzfall‹ (2012) einen Politthriller vorgelegt hat, dessen Schauplätze sich vor allem in Europas Osten befanden, nimmt sie ihre Leser nun, in ›Havarie‹, mit auf das Mittelmeer. In der kurzen Zeit von knapp 48 Stunden begegnen sich dort vier Schiffe: ein Luxusliner, dessen Passagieren es an nichts fehlt, ein Schlauchboot, dessen Insassen von einer besseren Zukunft in Europa träumen, ein irischer Frachter und ein Schiff der spanischen Seenotrettung aus Cartagena. Von DIETMAR JACOBSEN

Landnahme

Roman | Oliver Bottini: Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens Der Tod einer jungen Frau steht am Beginn von Oliver Bottinis neuntem Roman ›Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens‹, der mit dem Deutschen Krimi-Preis 2018 (national) ausgezeichnet wurde. Zu Recht, den dieser Roman ist ein großes Leseerlebnis, findet DIETMAR JACOBSEN

Der etwas andere Schnüffler

Comic | Andreas: Privatdetektiv Raffington Event Andreas‘ ›Privatdetektiv Raffington Event‹ ist nicht unbedingt der Mann fürs Grobe. Sein Spezialgebiet ist das Obskure: Fälle, bei denen man kaum einen Täter mit Namen nennen kann, falls es überhaupt einen geben sollte. Insofern ist er ein typischer Vertreter aus dem merkwürdigen Comic-Kosmos seines deutschen Urhebers, der zumindest in seiner französischen Wahlheimat schon lange zu den Großen gehört. Von CHRISTIAN NEUBERT

Auf der Suche nach einem Football-Star

Roman | Louisa Luna: Abgetaucht

Mehr als dreißig Jahre ist es inzwischen her, dass der populäre Footballspieler Zeb Williams mitten in einem Spiel auf und davon lief. Gerade sollte das letzte Viertel des Traditionsmatchs zwischen den Universitäten von Berkeley und Stanford vor mehr als 60.000 Zuschauern angepfiffen werden, als der zur Mannschaft von Berkeley gehörende Mann sich den Ball griff und aus dem Stadion sprintete. Seitdem wurde er nur noch einmal gesehen - von einem kurz nach dem Zwischenfall mit der Suche nach dem Sportidol beauftragten Detektiv in der Kleinstadt Ilona in Oregon. Und genau dort hofft Alice Vega, die Spezialistin im Aufspüren verschwundener oder entführter Personen, im Auftrag der Familie einer Ex-Freundin von Williams drei Jahrzehnte später auf Spuren des Vermissten zu stoßen. Und landet in einer von einer ultrarechten Hassgruppe terrorisierten Gegend, in der jeder Tag ihr letzter sein könnte. Von DIETMAR JACOBSEN

Realität aus zweiter Hand

Thomas Glavinic: Der Kameramörder
Thomas Glavinic ist noch keine dreißig Jahre alt und legt nun nach ›Carl Haffners Liebe zum Unentschieden‹ (1998) und ›Herr Susi‹ (2000) mit ›Der Kameramörder‹ bereits seinen dritten vorzüglichen Roman vor. Einem ganz brisanten Sujet hat sich der gebürtige Grazer gewidmet: dem sensationslüsternen Boulevardjournalismus der privaten Fernsehsender. Von PETER MOHR