Jugendbuch | Brynjulf Jung Tjønn: Mein Herz hämmert, dass es wehtut
Liebe und Tod, klassische Themen der Literatur, sind die überhöhte Version von Erfahrungen, denen kein Mensch ausweichen kann. Nur sind sie im Alltag keine Abstrakta, sondern ein Geschehen, dem Menschen ausgeliefert sind. Sterben und lieben heißen sie dann und zeigen sich ungeschminkt schonungslos. Dass man auch daraus ein Lied machen kann, beweist Brynjulf Jung Tjønn in seinem Roman ›Mein Herz hämmert, dass es wehtut‹. Von MAGALI HEISSLER
Henrik kennt Simon, den jüngeren Bruder seiner Mutter, schon sein ganzes fast fünfzehnjähriges Leben lang. Als er klein war, ist Simon mit ihm auf dem Boden herumgekrabbelt, später hat er mit ihm draußen getobt, noch später gingen sie zusammen zelten. Ein Geburtstag war kein Geburtstag, Weihnachten nicht Weihnachten ohne Simon, Onkel, Bruder und Vaterersatz. Simon war eine gegebene Größe für Henrik. Nun stirbt er.
Simon ist erst einunddreißig. Einen Beruf hat er nicht, auch keine Freundin, nicht einmal eine ehemalige. Er hatte Henrik, erkennt Henrik, während er Simon beim Sterben zusieht, und dabei zum ersten Mal über Simon nachdenkt. Fertig werden mit all den Gefühlen, die das in ihm auslöst, muss er allein. Seine Mutter steht unter Schock, sie leidet mit ihrem Bruder, ihren Sohn nimmt sie kaum wahr.
Beides tut weh, aber da ist noch Kjersti, in die Henrik sich verliebt hat. Noch ist sie mit ihren Eltern auf Urlaubsreise, aber wenn sie zurückkommt, wird er sie küssen, denkt Henrik, Richtig, dieses Mal, nicht nur wie in seinen Träumen oder in der Lüge, die er seinem Onkel erzählt hat.
Sich auflösen
Tjønn beginnt mitten in der Geschichte, in einem Moment in den Sommerferien, in dem Henrik endgültig begreift, dass sein Onkel sterben wird und dass sein Sterben nicht schön sein wird. Der Augenblick der Erkenntnis, des Schrecks ist zugleich Augenblick der Erinnerung. Was ist, war bereits, das Leben verrinnt unaufhörlich, noch während es gelebt wird. Erinnerungen an das Leben mit seinem Onkel werden zu Zeugen seines Daseins und zugleich zu Bestandteilen von Henriks Leben, der ohne Simon nicht wäre, wie er ist. Das alles geht durch Henriks Kopf in den Wochen, in denen er erlebt, wie der Körper seines Onkel zerfällt, wie er sich auflöst, bis nur noch Erinnerung bleibt.
Die Beschreibung ist meisterhaft und eine emotionale Zumutung an jugendliche Leserinnen in ihrer Offenheit und Schonungslosigkeit. Es gibt keinen Raum zum Träumen vom Glück, hier herrscht nur Schroffheit. Das aber in einer sprachlichen Schönheit, wie sie nur strenge Beschränkung und Formgebung hervorbringen kann.
Aufgelöst ist hier auch der gewohnte Fließtext. Jeder Satz der nicht einmal 120 beschriebenen Seiten ist unter dem vorhergehenden angeordnet, es ist ein Prosagedicht. Das hat seinen Sinn, denn jeder einzelne Satz hat Bedeutung. Keiner ist Kitt, Verbindungsstoff, Schmuck, keiner ist hingeschrieben, um das Lesen angenehm zu machen. In Auflösung befinden sich schließlich die Ränder des roten Schutzumschlags, aquarellartig verwischt durch Feuchtigkeit, Wasser, Tränen oder auch Abdrücke feuchter Finger. All das spielt eine Rolle in der Geschichte.
Substanz gewinnen
Dem Auflösungsprozess gegenübergestellt ist die Geschichte von Henriks erster großer Liebe, die in der Endphase von Simons Leben Substanz gewinnt. Aus einem Liebestraum wird Realität, etwas Festes, Greifbares, an dem Henrik sich festhalten kann, während sein Onkel ihm durch die Finger gleitet. Die Spiegelung ist atemberaubend, in ihrer Kühnheit ebenso wie in ihrem Gelingen.
Die kleine Geschichte lebt von ihren wenigen Figuren. Sie werden nur knapp umrissen und beginnen ihr Leben dann, während Henrik über alles nachdenkt. Es gibt nur wenig Informationen, trotzdem wird der Alltag so plastisch, dass man Ende viel erzählen kann über Henriks Mutter, ihre Bindung zu ihrem kleinen Bruder, von Simon, seinem Leben, seinen Träumen, von Henrik und Kjersti. Selbst der beste Freund Sverre und seine Familie, die nur wenige Sätze bekommen, geraten quicklebendig.
Das Sterben ist allgegenwärtig, noch in den kleinsten alltäglichen Gesten. Das trägt zum Realismus des Ganzen bei. Dauernd geht es ums Sterben, aber erst, wenn jemand dabei ist, es zu tun, wird man aufmerksam.
Ebenso geht es ums Lieben, nicht von ungefähr sieht man auf dem Schutzumschlag auch ein kleines Herz. Henrik und Simon machen sich erst jetzt klar, wie sehr sie aneinanderhängen. Zorn, Verlustgefühle und –ängste, das Gefühl, versagt zu haben, alles wird angesprochen, oft genügt ein Satz, um komplexe Gefühlslagen offenzulegen.
Henriks Mutter und Kjersti sind moderne, unabhängige Frauen, aktiv, selbstbestimmt. Die Selbstverständlichkeit seiner Darstellung zeichnet den Text zu all seinen Qualitäten zusätzlich aus. Kjersti, die das Leben noch vor sich hat, hat auch noch all den Mut derer, die auf Liebe und Glück setzen, weil sie noch wenig Lebenserfahrung haben. Henriks Mutter sieht die Welt facettenreicher, daher scheitert sie zunächst am Leid. Das ist eines der Themen, die Tjønn anreißt und die zum Diskutieren einladen, auch mit sich selbst.
Gleich, von welcher Seite aus man dieses Buch betrachtet, vom Aufbau, Sprache, Figurenzeichnung, Ausführung, ist es nicht nur ein gelungener Beitrag, sondern eine Bereicherung der Thematik.
Titelangaben
Brynjulf Jung Tjønn: Mein Herz hämmert, dass es wehtut
Så vakker du er, 2013, übersetzt aus dem Norwegischen von Katrin Frey
Hamburg: Dressler Verlag 2015
122 Seiten. 12,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren