Jugendbuch | Hannele Huovi: Die Federkette
In der Welt geschieht viel Schlimmes. Wenn man selber keine bösen Absichten hat, ist man aber doch nicht schuld daran. Etwas dagegen tun kann man ohnehin nicht, man ist viel zu schwach. Die Sätze sind wohlbekannt. Die finnische Autorin Hannele Huovi erzählt in ihrem realistischen Märchen ›Die Federkette‹ davon, wie viel Stärke in den Schwachen liegt, wenn sie aufhören, solchen Sätzen Glauben zu schenken. Von MAGALI HEISSLER
Eleisa stammt aus einem reichen Haus, aber sie ist einsam. Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie. Als sie entdeckt, dass sie die Sprache der Vögel versteht, glaubt sie, eine Heimat gefunden zu haben. Das Land der Vögel scheint ein Paradies zu sein. Dorthin zieht es sie, gleichermaßen naiv wie mutig geht sie über die Grenze. Das Unglück trifft sie unerwartet, wie auch den jungen Falken, der vor Schreck ihre Augen verletzt. Von da an ist Eleisa blind. Wer ist im Recht, wer im Unrecht? Falke oder Mädchen?
Ein fremdes Mädchen, das den seltsamen Namen Doppelgesicht trägt, besteht auf der Einberufung des Vogelgerichts. Das Gericht spricht sein Urteil und von da an sind Eleisa und der Falke mit einer Kette aus Federn aneinandergebunden, bis sie herausgefunden haben, wie man die Kette löst. Eine Wanderschaft beginnt, wohin, weiß niemand. Doppelgesicht, die eigentlich Beobachterin bleiben will, wird zu ihrer eigenen Überraschung zur Helferin. Das ist auch nötig, denn im Land der Menschen tut sich Böses. Die Menschen verlieren ihre Schatten und damit ihre Menschlichkeit. Ausgerechnet Eleisa weiß ziemlich genau, warum das passiert.
Märchen, Masken und das Leben
Huovi hat eine Welt erschaffen, die gleichermaßen realistisch wie fantastisch ist. Märchenwelt und Realität existieren nebeneinander, berühren sich aber und verschwimmen auch ineinander. Ihre Figuren können die Grenze zwischen den beiden Bereichen überschreiten. Schon die Fähigkeit dazu ist bei beiden Mädchen anders angelegt. Während Eleisa sich eher unbewusst-träumerisch bewegt, hat Doppelgesicht die Fäden in der Hand. Ihr eigenartiger Name spielt auf die Theatermaske mit dem lachenden und weinenden Gesicht an und damit auf Doppelgesichts Welt, die Bühne. Sie beherrscht nahezu die gesamte Kunst, spielt, führt Marionetten, tanzt, singt, erzählt Geschichten und hat zugleich die Rolle des klassischen Narren, der der Welt den Spiegel vorhält. Witz und Ironie sind ihre Waffe und ihre Verteidigungslinie, so, wie es bei Eleisa die Naivität und die Fähigkeit zu lieben sind.
Die Mischung von Theater und Welt, Märchen und Realität ist ebenso anspruchsvoll wie berückend umgesetzt. Die drohende Gefahr geht von der Welt der Menschen aus, sie ist von Anfang an präsent und es zeigt sich, dass nichts vor ihr sicher ist.
Was geschieht, erzählen die beiden Mädchen abwechselnd, kleine Vignetten, eine Feder für Eleisa, die schwarz-weiße Doppelmaske für Doppelgesicht machen deutlich, wer von ihnen gerade spricht.
Was den Menschen ausmacht
Sowohl Doppelgesicht als auch Eleisa sind behindert, die eine hinkt und hat einen Buckel, die andere ist blind. Auch die Menschen, denen die Schatten fehlen, sind ‚behindert‘, ihnen fehlt die Menschlichkeit. Die Geschichte der verschwindenden Schatten hat Parabel-Charakter, verweist aber zugleich auf Diktaturen und ihre Folgen. Eleisa und Doppelgesicht zeigen, dass man sich zur Wehr setzen kann, auch wenn man sich schwach fühlt.
Beide Mädchen müssen sich auch mit sich selbst auseinandersetzen. Der Falke ist für Eleisa ein schwieriger Weggefährte. Er ist alles andere als freundlich und ändert sich auch nicht nur deshalb, weil Eleisa ihm freundlich begegnet. Auch wird er nie menschlich, er bleibt Vogel mit all der dazugehörigen Eigenart. Sie muss lernen, dass Selbstaufgabe auch eine Form von Egoismus sein kann und eine Flucht vor den Gegebenheiten, ein wichtiger Gedanke in einem Jugendbuch. Eine weitere wichtige Lehre ist die, dass es in der Bedrängnis keine Flucht in ein Paradies gibt.
Märchenhafte Nebenfiguren wie Hexen und sprechende Vögel, etwa das schlagfertige Rabenpaar Huki und Muni, sind klug eingebunden, nicht nur, um Ängste, Zorn und Traurigkeit zu thematisieren, sondern um die zahlreichen Lehren auch mit viel Witz, Humor und genau der rechten Dosis Ironie an die junge Leserinnenschaft zu bringen. Die Bedrohung durch die Schattenlosen ist zugleich mit Mitgefühl für die Betroffenen gemischt, ein Denkansatz, den man sich häufiger wünscht. Gewalt, Blut und Tod sind trotzdem nicht ausgeblendet.
Sich über das Leben Gedanken zu machen, heißt, sich darum zu kümmern, was den Menschen ausmacht. Sich darum kümmern, bedeutet Einsatz. Und das können auch die, die sich für schwach halten, sagt Huovi und beweist es mit diesem fantasievollen, poetischen und ebenso weitsichtig wie weitherzig erzählten modernen Märchen.
Titelangaben
Hannele Huovi: Die Federkette
Höyhenketju,2002, übersetzt von Anu Stohner
München: Hanser 2014
225 Seiten. 14,90 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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