Gabriel erfährt kurz nach seinem 15. Geburtstag, dass er einer der wenigen Menschen mit einem großen Privileg ist: er hat sechs Leben. Ungeahnte Möglichkeiten liegen vor ihm, eine Zukunft voller großer Chancen. Aber wie geht man damit um. Von ANDREA WANNER
Die unglaubliche Geschicklichkeit der Katzen, die selbst extreme gefährliche Situationen meistern, hat dazu geführt, dass man ihnen sieben – im englischsprachigen Raum sogar neun – Leben zuschreibt. Aber Menschen haben eigentlich nur ein Leben. Eigentlich. In Véronique Petits gibt es Ausnahmen, Menschen, die zwei, drei, vier, fünf, sechs, in ganz seltenen Fällen sogar sieben Leben haben. Durch einen offiziellen Bluttest kann das ab einem gewissen Alter festgestellt werden. Und Gabriel ist total aus dem Häuschen, als er sein Ergebnis bekommt.
Alles wird jetzt anders. Der eher unscheinbare Teenager will endlich wahrgenommen werden, will gefeiert werden. Und er will sich all seine Wünsche erfüllen. Der sehnlichste: ein Fallschirmsprung. Einen Tandemsprung hat er schon absolviert, jetzt will er endlich allein durch die Luft segeln und das Gefühl von Freiheit genießen. Sofort. Und weil sich auf die Schnelle nichts anderes realisieren lässt, wird es eben Base-Jumping, ein Sprung von der Klippe statt aus dem Flugzeug. Gabriel genießt den Nervenkitzel der heimlichen Vorbereitung, den Reiz des Verbotenen, für ihn absolut risikolos – und verliert das erste seiner sechs Leben.
Fünf bleiben ihm. Und den Leserinnen und Lesern eine atemberaubende Lektüre. Wie geht man mit so einem Geschenk um? Ist das Leben noch so wertvoll, wenn man mehrere davon hat? Bringt es Verpflichtungen mit sich? Diese Gedanken diskutieren auch Schülerinnen und Schüler, die das gleiche Schicksal haben wie Gabriel: mehr als ein Leben.
Petit schildert Neid und Überheblichkeit, Gedankenlosigkeit und Moral, jugendlichen Übermut und das Leid junger Menschen, die schon viel durchmachen mussten. Das Leben ist nicht gerecht, die ungleiche Verteilung von mehr als einem Leben macht es noch ungerechter – aber macht es die, die in den Genuss dieses vermeintlichen Vorzuges kommen, auch glücklicher? Es sind philosophische Gedanken, die diese Geschichte begleiten. Fragen, die sich irgendwann auch Gabriel stellen muss. Vorher allerdings hat er noch einiges zu verlieren, zum Beispiel seine Leben.
Titelangaben
Véronique Petit: Sechs Leben
(Vivre ses vies 2020). Aus dem Französischen von Ann-Kathrin Häfner
München: mixtvision 2021
223 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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