Jugendbuch | Carrie Mac: 100 schlimme Dinge, die mir bestimmt passieren
Ängste kennen wir alle. Überstarke Ängste, häufig und lähmend, sind eine Krankheit, die den Betroffenen großes Leid bringt. Das kann man zum Thema eines Romans machen. Was man nicht tun sollte, ist, sich am Ende für die bequeme Lösung zu entscheiden. Von MAGALI HEIẞLER
Maeve ist vielleicht sechzehn, aber vom Leben schon gebeutelt. Ihr Vater ist alkohol- und drogenabhängig, seit einiger Zeit aber sauber und hat eine neue Familie. Maeve lebt bei ihrer Mutter. Die zwei haben ein inniges Verhältnis. Das ändert nichts daran, dass Maeve an einer massiven Angststörung leidet. Dazu kommen aktuell der Verlust ihrer besten Freundin sowie der ihrer ersten größeren Liebe.
Als ihre Mutter sich verliebt und mit dem neuen Mann einige Wochen nach Haiti reist, schickt sie Maeve kurzerhand zu ihrem Vater. Schon die Busreise wird zu einer psychischen Herausforderung. In Vancouver angekommen, ändert sich die Lage kaum. Ihre Stiefmutter ist schwanger, ihre Halbgeschwister sind enorm anstrengend und ihr Vater ist eben dabei, wieder in seine Sucht zu schliddern.
Das ist nicht alles, eine weitere traumatische Erfahrung steht Maeve bevor. Hätte sie Salix nicht kennengelernt, die wunderbar Geige spielen kann und zudem wunderschön ist, hätte es unweigerlich zu einer psychischen Katastrophe kommen können. Ganz ausgeschlossen ist das aber immer noch nicht, denn die Schwierigkeiten wollen einfach nicht enden.
Lebensecht und doch …
Mit Maeve hat Mac eine sehr lebendige Figur geschaffen und ihr eine überzeugende Stimme gegeben. Schon der Einstieg, in dem Maeve all die prächtigen Durchhalte-Sprüche aufspießt, die ihr entgegengehalten werden, wenn sie eine Panikattacke erleidet, ist nicht nur für Betroffene der Moment zur Identifikation. Auch Nicht-Betroffenen kennen solche Sprüche. Was sie nicht davon abhält, selbst auf diese Plattitüden zu verfallen. Die Selbsterkenntnis an dieser Stelle kann ganz schön weh tun. Kritik und Selbstkritik sind im ersten Teil des Buchs miteinander verflochten und machen einen Gutteil seiner Güte aus.
Mac ist ihrer Heldin sehr nah, was Maeve fühlt, fühlt auch die Leserin. Es wird greifbar, wie es sich anfühlt, überall Bedrohungen zu wittern, wie verlassen man sich vorkommt, wenn Vertrautes nicht mehr da ist und nichts mehr verlässlich zu sein scheint. Die Autorin versteht es, Gefühle zu wecken, ohne billig zu werden. Die beginnende Liebe Maeves zu Salix ist wunderschön zart hingetupft, Stiefmutter Claire ist eine Frau, die man gern haben muss und selbst die inneren Kämpfe von Maeves Vater werden auf eine Weise spürbar, dass man sich bemüht, ihn zu verstehen. Zu den Positiva ist zudem zu zählen, dass für einmal eine gut funktionierende Stieffamilie gezeichnet wird. Maeve, Claire und die Stiefgeschwister verstehen sich gut und mögen sich.
Dass Maeve keine ganz zuverlässige Erzählerin ist, bleibt dagegen allzu verborgen. In der großen Sympathie, die Mac für ihre Hauptfigur weckt, geht unter, dass diese die Menschen um sie herum aus einem sehr begrenzten Blickwinkel sieht und ihre Wahrnehmung infolge ihrer entsetzlichen Ängste gestört ist. Leider übersieht auch die Autorin eben diese Lage der Dinge nach einiger Zeit. Von da an rutscht Maeves Geschichte mit wachsendem Tempo aus der lebensechten Schilderung in einen handelsüblichen Katastrophen-Kitsch-Roman.
Wundertüte mit Herzchen und Sternchen
Die Katastrophen sind privater Natur. In den ersten Kapiteln gibt es einige Bemerkungen zur Armut in Vancouver, aber davon braucht man sich nicht erschrecken zu lassen. Die Autorin hat nicht die geringste Ahnung, wovon sie schreibt. Sie benutzt das, um Maeves Ängste zu illustrieren. Zu den Ängsten gesellen sich rasch das fragwürdige Verhalten ihrer Mutter, die suchtbedingte Verantwortungslosigkeit des Vaters, die traumatische erste Geburt der Stiefmutter (nichts für schwache Mägen), ein Tod in der Nachbarschaft, ein unbewältigter Streit mit der früheren besten Freundin und Maeves Lesbischsein.
Die neue Liebe Salix gerät dadurch fast zur Heilsbringerin, die noch dazu ihr eigens Leben gut im Griff hat. Natürlich hat sie auch Probleme. Ihre Mutter hat Krebs und ihre ganze Zukunft hängt von der Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule ab. Das Herz bricht einer fast beim Lesen.
Die angebotenen Lösungen dagegen bringen eine mindestens zum Kopfschütteln. Maeve wächst wieder und wieder über sich selbst hinaus. Sei es bei der Klärung des Streits mit der alten Schulfreundin, sei es in ihren Offenbarungen Salix gegenüber, sei es die Wandlung ihres Vaters. Natürlich taucht ein wahrer Zauberer auf, Salix’ Zukunft zu retten. Gekrönt wird das vom Hohelied auf natürliche Geburt, die dann auch prompt erfolgt. Mitten in der Natur.
Ganz klar besteht Maeve auch diese Nervenprobe mit Bravour. Zuletzt stürzt sie sich sogar ins dunkle Gelände, um das Plüschtier ihres kleinen Bruders heimzuholen. Merke: Angststörungen lassen sich mittels Herausforderungen prima und auf der Stelle bewältigen.
Damit gibt die Autorin leider im Nachhinein all den platten Sprüchen recht, die sie beim Einstieg in den Roman zurecht kritisiert hat, landet also beim Gegenteil der ursprünglichen Aussage. Schwerer wiegt, dass sich angesichts all der Wunder, der goldenen Sternchen, rosa Herzchen und Küsschen im letzten Teil ihrer Geschichte dem Vorwurf aussetzt, das Thema Angststörung verkitscht zu haben. Mehr als ein Schmöker ist es nicht geworden.
Schade.
Tielangaben
Carrie Mac: 100 schlimme Dinge, die mir bestimmt passieren
(10 Things I Can See From Here, 2017) Übersetzt von Christiane Stehn
Hamburg: Rowohlt Rotfuchs 2017
346 Seiten. 12,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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