Wie es sich anfühlt, wenn man vor den Nazis gerettet werden muss

Jugendbuch | Peggy Parnass: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete

Man weiß es ja. Man hat davon gehört. Es gibt sogar ein paar Bücher darüber, dass jüdische Eltern ihre Kinder nach England oder Schweden schicken durften und ihnen dadurch das Leben retteten. Es kann einer insgeheim ganz wohlig werden bei dem Gedanken, geht es doch ums Gerettet werden. Gut, dass es Peggy Parnass gibt. Sie war eines dieser Kinder und erzählt, wie es sich wirklich anfühlt, wenn man von den Eltern derart gerettet werden muss. Von MAGALI HEISSLER

KinderParnass schreibt unmittelbar, in kurzen Abschnitten, mit einer Präzision, die Leserinnen und Leser mitzieht in Parnass’ Kindheitsgeschichte hinein, in die guten wie in die Schreckenszeiten. Gefühle werden nicht angedeutet, sie sind in vollem Umfang zu lesen und zu erleben. Knapp fünf Jahre hatte sie mit ihren Eltern. Ihre Erinnerungen daran sind stark, die Bilder ebenso wie die Gefühle. Leidenschaftliche Liebe verband die Eltern, unvergesslich. Wer das in Parnass’ Worten einmal gelesen hat, wird sich ebenfalls erinnern.

Mit wenigen Worten werden Aussehen und Verhalten skizziert, es sind Erinnerungsfetzen, die so prägnant formuliert sind, dass manche Sätze ganze Erzählungen beinhalten. Liebe zwischen Mutter und Tochter, Konflikte, Sehnsüchte, Bewunderung, alles steckt in den kargen Zeilen. Ähnlich die Beziehung zum Vater.
Man begegnet einer fröhlichen, liebenden Familie, der Kernfamilie zuerst, später erweitert sich der Kreis. Onkel, Tanten, Vettern, Kusinen. Und ein kleine Bruder, auf den die ältere Schwester Peggy ganz schön eifersüchtig ist.

Dann ändert sich der Blickwinkel, schließlich sind die Nationalsozialisten an der Macht. Die tägliche Angst schleicht sich in die Alltagsmomente. Es gibt den kleinen privaten Widerstand der Familie gegen die Verbote, mit denen die Nationalsozialisten jüdische Menschen drangsalierten. Hier erfährt man, wie viel Mut zum täglichen Widerstand gehörte und wie schwer es ihnen die arische Umwelt machte. Parnass benennt das Unrecht, samt den Täterinnen und Tätern, entschieden und klar.

Aus dem Herzen in den Verstand

Noch bei den stärksten Gefühlen, die Parnass zielsicher bei den Leserinnen und Lesern zu wecken versteht, appelliert sie zugleich an den Verstand. Mit dem Mitfühlen und Mitleiden wird Zorn geweckt darauf, was Menschen anderen Menschen antun. Parnass’ Kindheitsschilderungen enden nicht mit einer glücklichen Rettung. Sie und ihr Bruder sind zwar am Leben, aber eben das Leben müssen sie sich immer wieder aufs Neue erträglich gestalten. Häufig wechselnde Pflegefamilien, die Trennung der Geschwister, Heimweh, Verlustgefühle, der Umgang mit diesen immensen Problemen bleibt den Kindern überlassen. Die kurzen Schilderungen sind beklemmend.
Erträglich werden sie allein durch einen Lebenswillen, dessen Stärke aus jedem Satz dringt. Die starken Gefühle, Liebe genauso wie Hass, werden zum Rettungsanker. Das ist eine deutliche Botschaft, die sich auch einem ganz jungen Publikum mitteilt. Es sind ungewohnte Töne in einer Zeit wie der heutigen, die ständig nivelliert, abschwächt, sich scheut, einen Standpunkt einzunehmen. Umso wichtiger ist dieses kleine Buch.

Farben der Liebe, Farben der Hoffnung

Parnass’ Worte sind nicht nur eindringlich, sie leuchten. Dieses Leuchten hat die brasilianische Künstlerin Tita do Rêgo Silva mit den Farbholzschnitten eingefangen, die dieses Buch der Liebe und des Schreckens illustrieren. Verblüffend zunächst ist das Vorherrschen von Gelb. Auf vielen Seiten strahlt auf diese Weise die Sonne, sogar im Augenblick des Abschieds 1939. Rot und Schwarz bilden Kontraste, nicht nur im Negativen. Widerborstig, aufrührerisch ringeln sich die dunklen Lockenköpfe der Familie, ein Zeichen von Lebenskraft und Lebenswillen unter dem Druck entsetzlicher Zustände. Rot zeigt Leben und Freude. Ins Negative gekehrt werden sie zu Bedrohung und Tod. Das Gelb ins Bräunliche verschoben erscheint schmutzig. Im Vordergrund bewegen sich immer Figuren aus dem Erzählten, Geschehen wird bildlich umgesetzt und damit noch einmal herausgehoben. Details betonen Symbolisches, etwa die »Lilienhände« der Mutter, die Vorlieben des Vaters oder die Fantasien der Kinder. Die Bilder sind ebenso lebendig wie die Worte, ebenso stark.

Nachworte der Autorin und der Illustratorin, zwei kurze Biographien und ein kurzer Bericht über die Entstehung der preisgekrönten ersten Ausgabe des Buchs von 2012 runden das kleine Buch ab.

Nun ist es neu erschienen, in der Reihe ›Die Bücher mit dem blauen Band‹, die über die Jahre schon mit vielen schönen Überraschungen aufgewartet hat. Peggy Parnass’ ›Kindheit‹ gehört trotz des traurigen Themas zu den allerschönsten.

Titelangaben
Peggy Parnass: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete
Illustriert von Tita do Rêgo Silva
Frankfurt: Fischer 2014
75 Seiten. 14,99 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
| Leseprobe

2 Comments

  1. Du hast uns mit deiner wunderschönen Besprechung glücklich gemacht.
    Vielen Dank! Tita sitzt neben mir mit ihre IPad und zeigt mir alles, ich selbst habe ja weder Computer noch Internet.
    Wird dein Text auch hoffentlich irgendwo gedruckt? gebe mir Bitte dein Telefon Nummer dann rufen wir dich an.

    Viel Freude am Leben wünschen wir dir beide,
    Peggy und Tita

    • Danke meinerseits!

      Man soll sich als Kritikerin ja um Objektivität bemühen, das fiel mir bei diesem Buch sehr schwer. Einerseits hätte ich bei vielem Geschilderten vor Wut schreien können (okay, ich hab’s getan), auf der anderen Seite macht die Lektüre glücklich, so eigenartig das auch bei einem solchen Thema klingt. Es liegt an der Liebe, die Text und Bilder bis zum Rand füllt.
      Das Buch gehört tonnenweise an die Leserinnenschaft verteilt. Ganz objektive subjektive Überzeugung von mir. ;-)

      Anders als hier online wird der Text wohl nicht erscheinen, aber das gilt heutzutage ja auch als regelrechte Veröffentlichung. Zitate aus der Kritik dürfen übrigens verwendet werden, falls gebraucht.

      Zu erreichen bin ich über die Redaktion (ja, es ist eine richtige Zeitschrift, das virtuelle Leben reicht mitten ins reale. Moderne Zeiten, sie lassen mich auch immer wieder staunen.)

      Danke für die lieben Wünsche, für das wunderbare Buch sowieso.
      Euch beiden auch alles, alles Gute!

      Magali Heißler

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Aus dem Ruder gelaufen

Nächster Artikel

Wahlmöglichkeiten

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Unheimliches

Jugendbuch | Hannes Wirlinger: Die Fürstin der Raben

Der 16jährige Josua trifft im Wald auf eine junge Frau in Begleitung von zwei Raben. Nicht nur er freundet sich mit ihr an, sondern auch seine ein Jahr ältere Schwester Margarete. Aber beide spüren, dass Sarah ein Geheimnis verbirgt. Von ANDREA WANNER

Daneben

Jugendbuch | Franziska Moll: Egal wohin Abhauen, weg, alles hinter sich lassen, das sind Träumereien, alltäglich, geradezu banal und rundum gesellschaftsfähig. Tatsächlich sind sie Teil des Problems, das in der Regel deswegen so bedrückend wurde, weil man sich ihm nicht gleich stellen wollte. Eben das übergeht auch Franziska Moll in ihrem zweiten Jugendroman ›Egal wohin‹ und so endet auch diese Geschichte vom Davonlaufen mal wieder daneben. Von MAGALI HEISSLER

(Schul)alltag

Marie-Aude Murail, Ein Ort wie dieser   Lehrerin ist Céciles Traumberuf, seit sie denken kann. Jetzt hat sie es tatsächlich geschafft und steht 18 Erstklässlern gegenüber. Endlich am Ziel ihrer Träume? Für die schüchterne junge Frau beginnt ein aufreibendes und aufregendes Schuljahr mit einer Horde ungebändigter Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, mit argwöhnischen Kolleginnen und misstrauischen Eltern. Cécile stellt sich den Herausforderungen. Von ANDREA WANNER

Opa ist ein weicher Felsen

Jugendbuch | Espen Dekko: Sommer ist trotzdem

Von Tod und Trauer zu schreiben, ist nicht einfach. Wie geht man damit um? Wie kann man den Tod eines geliebten Menschen verarbeiten und weiterleben? Dem Norweger Espen Dekko gelingt es mit einem leichten, melancholischen, sehr tiefen Buch, vom Sommer danach zu erzählen. Von GEORG PATZER