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Aus dem Ruder gelaufen

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Der Maulwurf (MDR), 21. Dezember

Friedhöfe erfreuen sich außergewöhnlicher Beliebtheit, sie liegen voll im Trend, ehrlich. Wer auf sich hält, fühlt sich heimisch auf dem Père Lachaise, dem St. Louis Cemetery No. 1 und dem Zentralfriedhof an der Simmeringer Hauptstraße, längst gibt es wie die Liste der fünfzig, wahlweise hundert größten Fußballstadien eine ähnliche Liste von Friedhöfen, die man einen nach dem anderen bereist, auf der To-do-Liste abhakt und gern auch mit Selfies ausstattet, Jim Morrison für die Jüngeren oder Hans Albers für die Älteren, das Jenseits organisiert sich bestens und liefert für jeden. Von WOLF SENFF

Foto: MDR / Andreas Wünschirs
Foto: MDR / Andreas Wünschirs
»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub«, ja, so geht’s, und gleichzeitig ermöglicht, wir befinden uns in Erfurt, diese besinnliche Stätte neues Leben bzw. einen neuen Lebensabschnitt, jedenfalls gilt das für den Strafgefangenen, der eben noch in Handschellen am Grab steht und, wir ahnen es, sogleich diese Gelegenheit nutzen wird, um zu fliehen, Friedhöfe hatten wir lange nicht, sie garantieren für stimmungsvolle Eröffnung beim ›TATORT‹. Schön. Nur dass er schießt, das hätte ganz und gar nicht notgetan auf dem Friedhof.

Pilcherfarben

Und lustig ist es auch nicht. Timo Lemke, einst Erfurter »Rotlichtkönig« – nein, gewiss nicht verwandt mit dem Zaun- oder dem Wachtelkönig –, gilt als äußerst brutal, und die Ermittler fürchten, dass er sich an denjenigen rächen will, die für seine Inhaftierung und Verurteilung verantwortlich sind, doch nein, so einfach ist es nicht.

»Sieben Jahre hab‘ ich auf diesen Moment gewartet, um endlich die Wahrheit zu erfahren«. Das ist ein Satz aus dem Gespräch des aus dem Polizeidienst entlassenen Ingo Konzack mit der Entführten im Kellerverlies, doch oh je, wie Rosamunde-Pilcher-gefärbt ist das denn? Oder: »Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, wenn der eigene Sohn glaubt, dass du ein Verbrecher bist«.

Dick aufgetragen

Demonstrative Weinerlichkeit dieser Couleur ist im ›TATORT‹ unüblich, ein Stilbruch, und auch die Handlung verliert den Faden, das Geschehen verästelt sich. Der als brutal beschriebene Lemke soll dann doch einen der Ermittler zu einem klärenden Gespräch aufgesucht haben? Bewaffnet? Und hätte nicht gewusst, worauf er sich einließ?

Gut, wir beginnen zu verstehen, worauf der Titel zielt. Da ist tief in der Vergangenheit etwas abgelaufen, das zu falschen Anschuldigungen und zu einem Fehlurteil führte. Nun holt es uns ein, unverhofft kommt oft, da wird eine Ermittlerin entführt, Kommissarin Grewel sendet so überaus argwöhnische Blicke, dass man meint, noch dem letzten der unbedarften Zuschauer müsse da etwas eingerieben werden. Als das LKA die Leitung des Falles an sich zieht, wird das, wir ahnten es, seitens der Mordkommission kühl ignoriert.

Schleifen und Abstellgleise

Mehrfach werden Gesprächsfragmente aus dem Kellerverlies eingeblendet, wo die entführte Ermittlerin festgehalten wird. Die Gegensätze nähern sich an, man ahnt längst, wer für die falschen Anschuldigungen verantwortlich war, doch Moment bitte, es muss der Ordnung halber ein Motiv eingeführt werden, klar, was dann selbstredend auch geschieht.

Die Handlung, die anfangs oft angenehm zügig verlief, muss nun durch Schleifen und über Abstellgleise kurven, wie soll das gehen. ›Maulwurf‹ kommt überfrachtet daher. Überraschung, als die Kommissarin mit dem argwöhnischen Blick nun dezenten Charme zeigen darf und ihren Computerspezi zum Rendezvous einlädt. Nett, eine amüsante Idee, die leider in diesem Kontext aufgesetzt wirkt.

Droge kommt ins Spiel, Familientragik wird dramatisch aufgeblättert, dazu gibt’s einen Einblick in die albanische Gang vom Prostituiertenmilieu. Nein, das ist zu viel, die Dramaturgie läuft dem ›Maulwurf‹ aus dem Ruder. Die zum Schluss entstehende Spannung, da all die Stränge geordnet zusammengeführt werden, zerfasert durch das Übermaß an Einsatzpersonal.

| WOLF SENFF

Titelangaben
›TATORT‹ Der Maulwurf (Mitteldeutscher Rundfunk)
Ermittler: Friedrich Mücke, Benjamin Kramme, Alina Levshin
Regie: Johannes Grieser
So., 21. Dezember, 20.15 Uhr, ARD

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