»Mein Film, mein Leben«

Film | Im Kino: The Disaster Artist

Wie konnte einer der schlechtesten Filme aller Zeiten ›The Room‹ von 2003, der trotz 6 Mio. Produktionskosten gerade mal 1800 Dollar einspielte, zum Kultmovie avancieren? Dahinter steckt der exzentrische Tommy Wiseau, der »Disaster Artist«. Bis heute macht er sich in Kalifornien als Schauspieler, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor seinen eigenen – kontroversen – Namen. Auch ANNA NOAH fragt sich: Wer ist der Mann, über dessen Herkunft und Geldquellen man bis heute nur spekulieren kann?

»Line? What is line?«

Disaster Artist Man kann als Schauspieler durchaus mal seinen Text vergessen, aber bei Tommy Wiseau ist das an der Tagesordnung. Und nicht nur das. Im Grunde genommen kann Tommy nur eins verdammt gut: sich katastrophal in Szene setzen. Er ist auffällig und exzentrisch.

›The Disaster Artist‹ zeichnet das Bild des Menschen hinter ›The Room‹. James Franco, der Tommy Wiseau verkörpert, hat für den Film ebenfalls die Rolle des Regisseurs und Schauspielers übernommen. Eines ist offensichtlich: Da ist ein Wiseau, der sich Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler nennt, aber weder Szenen schreiben, schauspielern oder Regie führen kann.

Der Film beginnt bei den schauspielerischen Anfänge Wiseaus in San Francisco, wo er in einer Schauspielschule Greg Sestero (Dave Franco) kennenlernt. Mit ihm zieht er dann einfach mal so nach Los Angeles, um seine Träume dort zu verwirklichen. »We are doing this together.« Natürlich läuft das nicht, wie gedacht und Wiseau kommt nach etlichen Niederlagen bei Castings auf die Idee, seinen Film selbst zu produzieren. Keiner der von Wiseau gecasteten Schauspieler kann sich vorstellen, wo die 6 Millionen Dollar für die Produktion herkommen. Die gesamte Zeit über weiß sein bester Freund Greg nie, worauf er sich da eigentlich eingelassen hat. Immer wieder versucht er, herauszufinden, wo Tommy herkommt, wie alt er ist und vor allem, wieso er sich zwei Wohnungen in Kalifornien leisten kann. Doch die Antworten bleiben bis zum heutigen Tag aus.

Frankenstein reloaded

Die meiste Zeit benimmt sich Wiseau, als ob er die einzige Person wäre, der Genialität aus den Ohren tropft. Obwohl jeder denkt, er ist der Seltsame, sind für ihn alle anderen die Verrückten. Dieser Narzissmus bringt ihn in einige Schwierigkeiten, denn das gesamte Filmset ist eine Katastrophe! Wiseau weigert sich, eine Klimaanlage für Innendrehs anzuschaffen oder den anderen Schauspielern Wasserflaschen bereitzustellen. Einmal kollabiert sogar jemand! Er vergisst zudem seine eigenen Zeilen, die er – wohlgemerkt – selbst geschrieben hat und behandelt alle wie Idioten. Die Krönung ist seine eigene Kloschüssel, die den gesamten Dreh über nur durch einen Vorhang abgetrennt mitten im Raum steht.

Wiseau, der unverstandene, missachtete, unschuldige Künstler … der schon bei Kleinigkeiten ausrastet, beispielsweise wenn die Schauspielerin bei einer Sexszene einen nicht überschminkten Leberfleck an der Schulter hat.

Als Greg Sestero die Chance hat, eine kleine TV-Rolle zu bekommen, ist Wiseau zu neidisch, um ihm den Tag freizugeben. Doch, genau wie Frankensteins Monster, will Wiseau einzig und allein, dass die Menschen ihn mögen. Er weiß nur nicht, wie er es anstellen soll.

Obwohl er sehr am Ende äußerst verletzt ist, dass das Publikum sich in seinem eigentlich ernsten Film halb totlacht, geht er hinterher auf die Bühne und erzählt allen, der Film sei von Anfang an als Komödie konzipiert gewesen. Natürlich ist das gelogen. Aber das interessiert jetzt nicht mehr, da die Menschen mochten, was sie sahen. Dennoch ist ›The Room‹ keineswegs nur Entertainment.

»Never give up your dreams!«

James Franco hat die Hauptrolle nicht ohne Grund übernommen. Es scheint ein paar Parallelen zwischen ihm und Wiseau zu geben. Beide spielen gern heftige Charaktere, beide sind eher Mittelklasseschauspieler. Franco betrachtet Wiseau in seinem Film als Gefährte und gleichzeitig als Träumer. Er gibt seinem Kollegen eine Statistenrolle in seiner eigenen Biographie. Auch der echte Greg Sestero ist kurz im Film zu sehen. Schließlich bildet sein Buch über Tommy die Grundlage für ›The Disaster Artist‹.

Der Zuschauer realisiert schnell, dass Wiseaus Eitelkeit nur seine Unsicherheit überspielen soll. Denn, wie gefloppt ›The Room‹ anfangs auch sein mag, es war ein riesiges Projekt, welches von einer Person erdacht, geschrieben, mit mehreren Leuten gedreht und sogar ohne Hollywoods Unterstützung beendet wurde. Das verdient bei allen Mysterien um sein Image einen großen Applaus! Denn ein Künstler, der etwas erschafft, ist immer ein Künstler, egal wie amateurhaft diese Kunst auf andere wirken mag. So definiert ›The Disaster Artist‹ Kunst auf seine eigene Weise. Ein Mensch, der anderen Menschen Gefühle rüberbringen kann, ist ein Künstler. Wiseau hatte eine Vision und ist ihr gefolgt. Schließlich ist es von diesem Standpunkt aus ziemlich egal, wie er das finanziell geschafft hat.

Also auf! Sie werden lachen, den Kopf schütteln, alles in allem eine großartige Zeit im Kino verbringen! Aber auf dem Nachhauseweg wird Ihnen auffallen, dass es nicht der verrückte Künstler ist, der noch in Ihnen nachklingt.

Oh nein, es ist die leise Erkenntnis, dass in uns allen möglicherweise ein kleiner Wiseau steckt!

| ANNA NOAH

Titelangaben
The Disaster Artist
Regie: James Franco
Drehbuch: Scott Neustadter & Michael H. Weber
Darsteller/Cast:
James Franco: Tommy Wiseau
Dave Franco: Greg Sestero
u.v.a.
Kamera: Brandon Trost
Musik: Dave Porter
Buchvorlage: Greg Sestero

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Ende der Einsamkeit

Nächster Artikel

Im Varieté durch Afrika

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Ein Mann für gewisse Stunden

Film | Im Kino: Bel Ami Paris ist eine Hure – und sogar die Huren werden reich. Der Einleitungssatz funkelt gleich einem verruchten Emblem über Declan Donnellans und Nick Ormerods Adaption von Guy De Maupassants zeitloser Aufstiegsgeschichte. Von LIDA BACH

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.

Kunst und Technik

Film | Neu auf DVD: Georges Méliès – Die Magie des Kinos und Die Reise zum Mond Am Anfang der Filmgeschichte standen zwei Gattungen, die seither längst vom abendfüllenden Spielfilm an den Rand gedrängt wurden: der Dokumentarfilm und der Trickfilm. Die Brüder Lumière benutzten die neue Erfindung, um Szenen aus der Wirklichkeit festzuhalten: einen in eine Station einfahrenden Zug, Arbeiterinnen, die eine Fabrik verlassen. Dass schon damals »geschwindelt«, Szenen gestellt wurden, ist mittlerweile bekannt. Im Prinzip aber folgten die Lumières dem Anspruch der Fotografie, der sie die Bewegung hinzufügten. Von THOMAS ROTHSCHILD

Pseudo-Parodie des Grauens

Film | Im Kino: Game Night Viele Menschen veranstalten wöchentlich Spieleabende. Ob Kartenrunde, Brett-, oder Rollenspiele: Nichts ist vor ihnen sicher. Doch auch das wird irgendwann langweilig – und Live-Action muss her! Was passiert nun, wenn einer der professionellen Schauspieler, die man selbst für ein besonderes Spiel engagiert hat, plötzlich ernst macht? Statt des »harmlosen« Kidnapping-Spiels fliegen einem plötzlich echte Kugeln um die Ohren. »Aber ist das auch witzig?«, fragt sich ANNA NOAH.

Ein Dokument des Exils

Film | Auf DVD: Shadows in Paradise. Hitler’s Exiles in Hollywood Es gibt eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der verlautbarten Empfindlichkeit, mit der man in Deutschland – zuletzt im Zusammenhang mit dem skandalisierten »Gedicht« von Günter Grass – auf Kritik an Israel reagiert, und der historischen Tatsache, dass man nach 1945 in Deutschland ebenso wenig wie in Österreich daran interessiert war oder gar dazu beigetragen hätte, dass die von den Nationalsozialisten ins Exil gejagten Juden, die den Holocaust überlebt hatten, in ihre Heimat zurückkehren. Man wollte sie, um es unverblümt zu sagen, hier nicht haben. Von THOMAS ROTHSCHILD