Film | Abel Gance: Napoleon/Austerlitz. Glanz einer Kaiserkrone
Die Geschichte des Films ist, technisch betrachtet, die Geschichte einer permanenten Annäherung an die Wirklichkeitsillusion. Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts aus einer Kombination dreier Erfindungen – der Fotografie, des bewegten Bildes durch eine rasche Abfolge von Phasen und der Projektion, der „Laterna magica“ – der Stummfilm geboren war, suchte man sogleich nach Möglichkeiten, den Ton, die Farbe und den Raum hinzuzufügen. Von THOMAS ROTHSCHILD
Der Ton wurde mit eigenen Apparaten zugespielt, ehe man ihn auf dem Filmmaterial selbst fixieren konnte, die Farbe wurde gelegentlich auf einzelnen Kadern ergänzt, ehe Ende der dreißiger Jahre die Technik des Farbfilms ausgereift war, und für die Raumillusion experimentierte man unter anderem mit vergrößerten Formaten.
Es war der Franzose Abel Gance, der einen ungewöhnlichen Weg ging. Er ließ das Finale seines Films Napoleon synchron auf drei Leinwände projizieren. So konnte er nicht nur ein breites Panorama präsentieren, komplementäre Bilder koppeln, sondern auch mit gewagten Kontrasten gleichzeitiger Handlungsstränge experimentieren – etwa dem einsamen Feldherren wie aus einem Bild von Caspar David Friedrich gegen das anonyme Heer der hungernden Soldaten, die ihm begeistert folgen. Dieser Effekt, der in normalen Kinos nicht wiederzugeben war, kann auch auf der DVD, die die von Francis Ford Coppola restaurierte Version mit der Musik von dessen Vater Carmine Coppola enthält, nur unbefriedigend konserviert werden. Die drei Bilder werden in dieser Version verkleinert und im Verfahren des Split Screen neben einander gezeigt.
Zu Recht aber gilt dieser Film aus dem Jahr 1927, der in der vorliegenden Fassung 223 Minuten dauert (es existiert eine fast sechsstündige Version), über die Idee mit den getrennten Projektionen hinaus als Meilenstein der Avantgarde. Er arbeitet mit Mehrfachbelichtungen, mit rasanten Folgen von Kürzesteinstellungen, die die Legende, der Videoclip hätte diese Technik erfunden, Lügen straft, mit Großaufnahmen von Typen, die in einer einzigen Einstellung eine ganze Geschichte erzählen.
15 Jahre vor der berühmten Szene in Casablanca verfilmt Abel Gance das Pathos der »Marseillaise« – in einem Stummfilm! Und in einer bis heute atemberaubenden Parallelmontage sieht man Napoleon in einem kleinen Boot auf der stürmischen See und synchron die Wogen, die den Konvent aufwühlen. Die Massenszenen lassen sich nur mit jenen von Cecil B. De Mille vergleichen.
Napoleon ist ein Film über einen genialen Führer und Feldherren, wie Eisensteins Alexander Newski oder die deutschen Filme vom Alten Fritz, und je nachdem, wie man Napoleons Rolle in der Weltgeschichte beurteilt, wird man das Pathos abstoßend oder grandios finden. Die Ikonographie für positive wie für negative Helden gleicht sich.
Abel Gance sieht in Napoleon den charismatischen Führer, der die Revolution nach Europa tragen und ein geeintes Europa schaffen wollte. Der Film zeigt, stark verkürzt, die Geschichte von Napoleons Kindheit bis zum Italienfeldzug. Er sollte eigentlich nur der erste von sechs Filmen sein, die Abel Gance jedoch nicht finanzieren konnte.
33 Jahre später durfte der 61jährige Abel Gance doch noch den Ausstattungsfilm Austerlitz drehen. Aber trotz einer All-Star-Besetzung und dem großen Kameramann Henri Alekan lässt dieser konventionelle Film das Genie von „Napoleon“ nicht mehr erkennen. Der Farbfilm mit seinen klischeehaften Dialogen wirkt wie eine kolportagehafte Aneinanderreihung von Anekdoten. Und wie armselig wirkt, verglichen mit Eisensteins „Alexander Newski“, die Schlacht auf dem Eis, die es auch im Film von Abel Gance gibt.
Austerlitz – Napoleon ist seit einem Jahr Kaiser, ein Autokrat, der keinen Widerspruch duldet – endet mit der Marseillaise. Wer Frankreich verstehen will, muss stets bedenken, dass dies ein Land ist, dessen Nationalbewusstsein eine Revolution zur Grundlage hat.
| Thomas Rothschild
Titelangaben:
Abel Gance: Napoleon/Austerlitz. Glanz einer Kaiserkrone. Arthaus/Studiocanal