Jugendbuch | Lucy Christopher: Kiss me, kill me
Im Wald wird ein Mädchen getötet. Der Täter ist schnell gefunden und gesteht seine Tat. Es geht nur noch darum, ob Emilys Vater wirklich schuldfähig ist. Ein Thriller, der an dunkle Orte und in Abgründe führt. Von ANDREA WANNER
Zunächst denkt Emily, ihr Vater trage ein verletztes Tier ins Haus. Doch dann erkennt sie das Entsetzliche: Was in seinen Armen liegt, ist kein totes Tier, sondern ihre Mitschülerin Ashlee Parker. Beliebt, sportlich, eine Schönheit, voller Zukunftspläne – und die Freundin von Damon Hilary. Der Fall scheint klar. Emilys Vater war Soldat und hat versehentlich eine Zivilistin getötet. Er leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, an Flashbacks, bei denen er das schreckliche Erlebnis wieder und wieder durchlebt. In so einem Zustand muss er das Mädchen getötet haben. Oder war es anders? Hat er sie beobachtet und ihr aufgelauert? Emily ist erschüttert – aber zutiefst von seiner Unschuld überzeugt. Wenn er Ashlee nicht getötet hat, wer war es dann? Wer war außer ihm und Ashlee nachts noch im Wald?
Ein Katz-und-Maus-Spiel
Lucy Christopher konstruiert eine Geschichte, die abwechselnd von zwei Hauptfiguren erzählt wird: Emily und Damon. Beide leiden unsäglich unter dem furchtbaren Geschehen; Emily, weil sie ihrem Vater nicht ein so abscheuliches Verbrechen zutraut und Damon, weil es schließlich seine Freundin war. Und weil er schuldig fühlt. Er, drei Kumpels und Ashlee waren im Wald. Der Polizei gegenüber sagen sie aus, nur am Waldrand gefeiert zu haben. In Wirklichkeit waren sie im Dunkel unterwegs und haben ihr Spiel gespielt, ein düsteres, kämpferisches Fangen, von dem sich Damon und Ashlee entfernt hatten, um sich anderweitig zu vergnügen. Genau da liegt das Problem: zugedröhnt mit Drogen weiß Damen nicht mehr, was wirklich in jener Nacht passiert ist. Emily und Damon suchen nach der Wahrheit.
Eine weitere entscheidende Rolle spielt der Wald, Darkwood. Undurchdringlich, mit gefährlichen Stellen wie einem Felsen, von dem sich Selbstmörder stürzen, rätselhaft und voll ursprünglicher Magie. Aber auch ein Zufluchtsort und Schutzraum. Während Damon und seine Freund ihre exzessiven Spiele dort betreiben, zieht sich Emilys Vater in die Ruhe des Waldes und einen versteckten Bunker zurück. Für jeden ist der Wald etwas anderes, verwandelt sich in das, was man in ihm sucht.
Verwirrspiel voller Abgründe
Lucy Christopher überlässt in ihrem Thriller kein Detail dem Zufall. Sie konstruiert ein Rätsel voller Symmetrien und Entsprechungen, baut auf Symbole und »telling names«. Das Verhältnis zwischen Emily und Damon schwankt zwischen Anziehung und Hass. Beide haben Väter, die im Krieg waren, beide haben sie verloren: Damons Vaters wurde von einer Mine zerfetzt, Emilys Vater ist zwar körperlich unversehrt zurück, seelisch aber ein Wrack. Christopher lotet die Abgründe aus, die in jedem Menschen schlummern, lässt Hass, Wut und sexuelle Begierde von den Figuren Besitz ergreifen und sie dominieren. Sie geht dabei sehr weit, wagt sich in Bereiche, die für ein Jugendbuch grenzwertig sind. Das ist einerseits reizvoll, andererseits nicht ohne Risiko, vor allem die Lösung des Falls – die an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden soll – die in eine Richtung geht, die gefährlich werden könnte, auch für Jugendliche hier und heute.
So ist das, was in Darkwood geschieht, ein faszinierendes Verwirrspiel voller Abgründe, in dessen Bann man sich beim Lesen leicht ziehen lässt. Die Handlungsstränge verwirren und verknoten sich, werden zu einem unlösbaren Knäuel, für das es aber doch eine Lösung geben muss, denn Ashlee ist tot und jemand hat sie getötet. Eine andere Frage wird Seite um Seite drängender: Wer war Ashlee Parker? Was gibt es, was niemand über sie wusste? Die Antwort ist die Lösung. Und bis sie gefunden ist, brauchen Leserinnen und Leser wirklich gute Nerven.
| ANDREA WANNER
Titelangaben
Lucy Christopher: Kiss me, kill me (The Killing Woods 2013)
Aus dem Englischen von Beate Schäfer
Hamburg: Chicken House 2014
384 Seiten. 14,99 Euro
Jugendbuch ab 14