Durch das Augenglas der Liebe

Jugendbuch | Beate Dölling: Der Sommer, in dem wir alle über Bord gingen

Eine alte Fehde zwischen den Schülerinnen und Schülern zweier Schulen, die anscheinend kein Ende findet, Gefühlswirrwarr und viel schöne Natur, die allerdings auch Arbeit macht, sind die Ingredienzien von Beate Döllings Sommerabenteuergeschichte. Erst am Ende wird die leichte Kost pikanter und zeigt, wie wichtig der Blick der Liebe auf die Dinge ist. Von MAGALI HEISSLER

der_sommer_in_dem_wir_alle_ueber_bord_gingen-9783423761321Lena ist die Tochter des örtlichen Bio-Bauern, mit dessen Erzeugnissen die Schülerinnen und Schüler des Internats aufs Beste versorgt werden. Zu Unrecht, findet Lena, denn »die vom Schloss« sind verwöhnt, eingebildet und überhaupt braucht »die« niemand hier im Dorf. Dieser Meinung sind auch ihre beste Freundin und der ganze Rest ihrer Klasse. Pöbeleien mit den Jugendlichen vom Internat sind an der Tagesordnung.

Die Jugendlichen im Internat, besonders die der siebten Klasse, finden die Dorfjugendlichen rückständig, verbauert und ungebildet. Niemand will etwas mit ihnen zu tun haben. Pöbeleien auf der Dorfstraße oder am nahen Badesee sind an der Tagesordnung. Der Konflikt ist alt, er hat geradezu Tradition. Warum das so ist, interessiert niemanden.

Als die »Bauern« zeitweise die Turnhalle des Internats nutzen müssen, wächst die Aggressivität noch ein gutes Stück. Dass Lena unvermutet ihr Herz für Felix, den Oberschnösel des Internats, entdeckt und auch das seine plötzlich schneller schlägt, wenn Lena auftaucht, macht die Sache nicht einfacher, im Gegenteil. Eines Nachts fließt Blut, darauf folgt eine Entführung und schließlich ein Brand. Zimperlich ist niemand von den Jugendlichen. Hier hilft nur noch ein Wunder.

Von allem ein bisschen und vor allem ein bisschen viel

Dölling hat die Geschichte sehr breit angelegt und sie erzählt sie ungewohnt behäbig. Die Leserin muss sich auf zwei nicht kleine Gruppen von Jugendlichen einstellen, dazu Lehrerinnen und Lehrer zweier Schulen, Geschwisterkinder und Eltern. Die Tierwelt ist mit Pferd, Kaninchen und zwei Hunden vertreten. Das erfordert einiges an Konzentration gerade von der noch jungen Zielgruppe. Kinder wie Erwachsene sind mit zum Teil außergewöhnlichen Eigenschaften ausgestattet, was eine Hilfestellung sein soll, aber etwas übertrieben wirkt. Max etwa ist, obwohl erst knapp dreizehn, von der Molekularküche faszinieret und experimentiert im Internatszimmer mit solchen Gerichten, Pep aus Spanien darf als runnig gag aufs das Drolligste mit der deutschen Sprache kämpfen, Maria, Lenas beste Freundin, hat einen Grüntick.

Lehrerinnen und Lehrer haben neben ihren Namen noch (eher platte) Spitznamen und obendrein ihre Eigentümlichkeiten, Eltern bestehen vor allem aus bekannten Versatzstücken. Es gibt überraschende Einsprengsel von höchst unterschiedlichen Dialekten.

Dahinter verbergen sich die persönlichen Probleme der Kinder. Die Trennung von Felix’ Eltern, z.B., oder eher alltägliche, wie bei Lena, die zu Hause mithelfen und sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern muss. Felix vermisst überdies seinen Hund, ein anderer Schüler hat strenggläubige Eltern, es gibt Eifersüchteleien, kleine Liebesgeschichten neben der von Lena und Felix und auch zwischen einem Lehrer der einen und Lehrerin der anderen Schule. Zwischen wilden Racheaktionen erhält man Belehrungen zur deutschen Grammatik und viel Skurrilität im Verhalten einiger Lehrer. Es gibt sogar ein Goethezitat zum eigentlichen Thema. Viele Themen werden angerissen, vom Ende der DDR bis zur hormonbedingten Teenager-Schwärmerei für gut aussehende Lehrerinnen. Die Schauplätze wechseln rasch, Klassenzimmer, Schlafräume, Waldwege, Dorfladen, Badesee, Hausboot, auf dem Feld, Kinderzimmer. Es ist von allem einfach zu viel. Das fällt deswegen ins Gewicht, weil beim genauen Hinsehen das wenigste davon für die Handlung Bedeutung hat.

Was bleibt

Die Beschreibungen wirken merkwürdig altmodisch, behäbig und höchstens für die Zielgruppe überzeugend, die allerdings den Anspruch darauf hätte, etwas vorgesetzt zu bekommen, das dem heutigen Alltag näherkommt. Auch der gezeigte Humor ist eher bei der jungen Altersgruppe anzusiedeln. Man hat den Eindruck, dass hier in alle Richtungen nach Aufmerksamkeit gefischt werden soll.

Die Racheaktionen sorgen für Spannung und den einen und anderen schönen Ekeleffekt. Der Höhepunkt ist dann aber derart fulminant, dass man sich fragt, ob man es eigentlich noch mit den gleichen Personen zu tun. An solchen Stellen macht sich bemerkbar, dass die Charaktere der Figuren kaum unterfüttert wurden, sondern aus anbehaupteten Eigenschaften bestehen. Immerhin erzählt Dölling selbst in schwächeren Büchern so gut, dass man weiterliest, weil man einfach wissen will, wie es ausgeht. Und immerhin gewinnen einige wenige Figuren Kontur, so Lena und Felix und seine Klassenkameradin Alina trotz – oder wegen? – ihrer seltenen Auftritte. Es ist eindeutig, wo die Sympathien der Autorin liegen und leider auch, wo in diesem dicken Buch sich die eigentliche Geschichte versteckt.

Die Einsicht und der Tritt auf die Bremse kommen erst am Schluss und recht plötzlich. Besagte Einsicht liegt aber vor allem bei den Erwachsenen. Das ist nicht günstig für junge Leserinnen, da ihnen dadurch der Blick auf Selbstständigkeit von gleichaltrigen Romanfiguren genommen wird. Denen fehlt die Vernunft und auch Vorstellungsvermögen für eine Lösung. Wieder setzt sich der altmodische Ton durch, Erwachsene rücken die Welt zurecht, damit Jugendliche zueinanderfinden. Auch einige persönliche Probleme werden für sie gelöst. Der zugrunde liegende alte Konflikt, die Inbesitznahme des örtlichen Schlossgebäudes durch »Fremde« und damit der Ausschluss der Einheimischen, wird zu spät angesprochen. Dafür geraten die Sanktionen, vor allem die Diskussion des unschönen Tuns der Jugendlichen weitgehend aus dem Blick. Am Ende siegt auf wunderbare Weise die heile, heile Welt.

Das ist der Eindruck, der bleibt. Ein zu lang geratenes, zu oberflächliches, einigermaßen lustiges Buch für Elf-, Zwölfjährige, das so gerade eben zum Ausdruck bringt, dass es besser ist, freundlich zu sein und sich zu verständigen, als aufeinander einzuprügeln. Mit Goethe. Nett.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Beate Dölling: Der Sommer, in dem wir alle über Bord gingen
München: dtv Kinderbuch 2015
265 Seiten, 12,95 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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