In ›Mädchenmeute‹ hat Kirsten Fuchs eine bunt zusammengewürfelte Mädchenschar in ein Abenteuer im Erzgebirge geschickt, nun geht es auf einem Containerschiff nach Marokko. Geheimnisvolle Videos, ein böser Erster Offizier, seltsame Begegnungen und ein Kuss schweißen die Meute noch enger zusammen. GEORG PATZER ist sehr angetan
Diese Meute von Mädchen kennt man schon aus einem anderen Buch, »Mädchenmeute«, das vor sechs Jahren mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde: Der Roman von Kirsten Fuchs erzählt die Abenteuer von Charlotte, Freigunda, Antonia, Bea, Rike, Anuschka und Yvette, die sich in einem Sommerferienlager kennenlernen, von dort ausreißen, ein Hundefängerauto mitsamt den alten Hunden stehlen und im Wald des Erzgebirges in einem aufgegebenen Bergwerksschacht ihre Fähigkeiten zum Überleben beweisen müssen – erfolgreich. Im neuen Buch sind sie ein paar Monate älter, gehen wieder zur Schule und halten nebenbei Vorträge über ihre Abenteuer, denn sie sind Heldinnen geworden, Vorbilder: »Einfach in den Wald gehen und da wohnen. Das nenn ich modern«, sagt Charlotte: »Weißte, das wird der neue Trend. In den Wald gehen. Und ganz ohne Drogen und so.” Die halbe Welt hat ihr Verschwinden mitverfolgt und genießt die Erzählungen der Mädchen bei ihren Auftritten.
Und jetzt verschwinden sie schon wieder. Denn Charlotte bekommt plötzlich an ihrem 16. Geburtstag ein Video von Bea geschickt, die seit einem Vierteljahr verschwunden ist. Und dann in rascher Folge immer mehr, seltsame, geheimnisvolle Videos …
»Motorengeräusch. Wackelbild. Aus einem fahrenden Auto gefilmt. Unten ocker oder rötlich, Geröll oder Sand. Sträucher. Darüber hellblau, weiß, Himmel und Wolken. Dazwischen weiche Berge, hellbraun wie ein Kamelhöcker am anderen.
Der Himmel größer als die Erde.
Die Perspektive erhöht. Ein LKW.
»Was filmst du da?« Eine Männerstimme.
»Ich film die Blüten, die hier wachsen.« Beas Stimme.
Die Männerstimme kommt von ihrem Vater, der, das kommt nach und nach raus, in Marokko Lastwagenfahrer ist. Keine Erklärungen, was genau los ist, nur immer wieder die Bitte, es geheimzuhalten: »Niemandem von der Nachricht etwas sagen. BpunktEpunktApunkt.« Und als Charlotte fragt, ob sie in Schwierigkeiten ist, antwortet sie nicht. Es kommen nur immer wieder Videos von ihrer Fahrt, Treffen mit einem Freund namens Amine, von ihrem Vater, der verprügelt wird. Also beschließt Charlotte, ihr zu helfen, denn das kann doch nur ein Hilferuf sein.
Zuerst versucht sie, ihre Eltern zu überreden, mit ihr nach Marokko zu fahren, ohne ihnen zu erzählen, dass es um eine Rettungsaktion geht. Aber die weigern sich, sind entsetzt, als sie erfahren, dass Charlotte schon die Tickets für das Containerschiff gekauft hat. Und Charlotte erzählt immer noch nicht, dass sie Bea suchen wollte. Und dann erzählt sie es ihren Freundinnen, mit denen sie mal wieder einen Auftritt zusammen hat. Und sofort sind alle begeistert dabei.
Ein Sturm und ein Schimpansenbaby
Es ist schon ein bisschen abenteuerlich, wie sie nach Rotterdam und auf das Schiff kommen – vieles wird von der reichen Yvette organisiert, die das so macht, wie nur reiche Kinder mit ihrem aus dem Geld ihres Vaters gespeisten Selbstbewusstsein es können. Dann müssen sie noch zwei weitere Personen als blinde Passagiere auf das Schiff namens »Lexy Barker« schmuggeln: Mimiko und die Journalistin Francesca, die ein Buch über die Mädchenmeute schreiben will. Mimiko bekommt kurz vor der Abfahrt dann noch Angst und geht von Bord. Aber dann beginnt das Abenteuer erst so richtig.
Denn sie geraten nicht nur in einen Sturm und müssen Francesca natürlich verstecken. Sie müssen auch auf dem Schiff klarkommen, das von einem abweisenden Kapitän und dem sehr unangenehmen Ersten Offizier Artem Kusmyn regiert wird und eine Besatzung aus Philippinos und Ukrainern hat – die meisten sind wortkarg bzw. können keine Fremdsprachen, mit einigen wenigen freunden sich die Mädchen an. Es sind schlecht bezahlte Jobs, die die Männer monatelang von ihren Familien trennen. Die sie nur bei Landgängen im Internetcafé sehen können, denn es gibt auf hoher See kein Internet. Für die Seemänner ist es aber eine Gelegenheit, Geld zu verdienen, das sie nach Hause schicken. Nach und nach wird auch die Geschichte dieser Männer erzählt, die Ausbeutung, das Ausgeliefertsein, die immer wieder lauernde Gefahr des Meers.
Noch gefährlicher wird es, als sie näher mit dem Ersten Offizier zu tun haben, der ein Schimpansenbaby an Bord geschmuggelt hat, ihnen die Handys wegnimmt und sie in ihren Kajüten einsperrt und mit körperlicher Gewalt droht. Er schikaniert die Mannschaft und scheint den Kapitän mit irgendetwas zu erpressen, der überall Bilder von Seeungeheuern aufgehängt hat – die Auflösung dafür kommt sehr spät im Buch. Und geheimnisvoll wird es, als die Mädchen bei einem Landgang in Le Havre dem Kapitän in ein Museum folgen, wo Charlotte von einer Frau ein riesiges, versteinertes Ei in die Hand gedrückt bekommt, das sie dem Kapitän geben soll.
Es sind fast erwachsene Frauencharaktere, die hier wieder einmal aufeinandertreffen: die eher schüchterne Charlotte, die diese ganze Geschichte erzählt, die selbstbewusste und reiche Yvette, die zurückhaltende und oft ängstliche Antonia und die auf ihren Reisen über die Mittelaltermärkten abgehärtete und pragmatische Freigunda, die statt zu reden oder rumzuhängen lieber Wäsche wascht oder den Matrosen bei der Arbeit hilft.
Eine bildhafte, abwechslungsreiche Sprache
Vor allem Kirsten Fuchs‘ reicher, abwechslungsreicher Erzählstil, den sie Charlotte in den Mund legt, macht das Buch zu einem vergnüglichen und vor allem spannenden Leseabenteuer. Sie denkt sich Namen und Lebensläufe der Seeleute aus oder erzählt das Beladen des Schiffs als Containerballett:
»Die Kräne tanzen auf ihren Schienen hin und her. Ihre Kranarme fahren vor und zurück. Die riesigen Räder an den Kränen drehen sich. Und da kommen auch schon die nächsten LKW mit neuen Containern angetanzt. Die Hebedinger fahren gleichzeitig runter. Was für eine Choreographie. Die Musik zu diesem Tanz ist sehr modern. Ein besonderes Orchester: an der Tütütüt wechselnde LKW-Solisten, an der Pieppieppiepe die Kräne beim Hin-und-her-Fahren. An der Lalülalüle die Greifer, bevor sie die Container greifen und an der Pauke natürlich die Container. Gleich ist es wieder so weit. Drei, zwei, RUMS! Der sitzt.«
Oft erzählt sie derart spielerisch, manchmal lakonisch, oft sehr bildhaft, zum Beispiel als sie durch das Schiff geführt werden und zum Maschinenraum kommen: »Hitze kam hochgestiegen. Neben der Wendeltreppe hingen ölige Jacken, wie Heizer im Schlaf.« Oder: »Durch die Kopfhörer und die Mütze gedämpft, vibrierte das metallische Hallen unserer Schritte auf der Treppe. Wir stiegen als Ritter ohne Waffen diesem lebendigen Ungeheuer ins Maul.« Und über Yvette sagt sie einmal: »Man musste sie schon echt mögen, um sie gernhaben zu können.« Eine in ihrer Verdrehung sehr präzise Charakterisierung. Oder sie schreibt über die Phantasie, die wie Haarlocken sind, die man bändigen, glätten und an den Kopf anlegen kann, oder von den unfertigen Gedanken, die immer wieder hin- und herrumpeln, als wäre der Kopf ein Schiff im Sturm.
Im Lauf der langen Ich-Erzählung findet Charlotte durch ihre sprachlichen Spielereien zu einem erstaunlich breiten stilistischen Spektrum, das jeder Situation perfekt angepasst ist. Und reflektiert gleichzeitig ihre Erzählweise, denkt über das Wahrnehmen nach. Über das Leben, die Lügen und die Wahrheit und ihre so unterschiedlichen Freundinnen, die alle ihre Geheimnisse oder blinden Flecken haben, die sich nur nach und nach entfalten. Dabei gelingen ihr nicht nur präzise Beschreibungen der Menschen um sie herum, sondern auch gute Dialoge, mit denen die Mädchen noch einmal lebendiger werden. Am Schluss des Romans, der langen Erzählung von Charlotte, bitten die Mädchen sie, ihre Geschichte zu erzählen. Was sie ja schon getan hat.
Und der letzte Trick des Romans ist, dass man sehr spät merkt, dass es gar nicht um die Rettung von Bea geht, sondern um die abenteuerliche Fahrt zu ihr, inklusive Bedrohungen, Erwachsenwerden und einem überraschenden Kuss.
Titelangaben
Kirsten Fuchs: Mädchenmeuterei
Berlin: Rowohlt 2021
496 Seiten, 22 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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