Kinder- und Jugendbuch | Kinder und Jugendbuchmesse Bologna
Wunderbare Bücher, spannende Begegnungen und der Zauber von vierblättrigen Kleeblättern. Ein Gang über die 54. Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna. Von SUSANNE MARSCHALL und GEORG PATZER
Wenn man mit dem 38-er-Bus Richtung Messe fährt, kann man sie oft schon erkennen, die Messebesucher. An ihren Eintrittskarten, die sie an den langen, kinderbunten Bändern um den Hals tragen. An den Skizzenbüchern, in die sie zeichnen, von den Kurven durchgeschüttelt, an den riesigen Mappen, vollgestopft mit Illustrationen, die sie dann hoffnungsvoll den Verlagen anbieten. Oder daran, dass sie ganz konzentriert kleine Fäden zu Zöpfen flechten, am Sitz vor ihnen festgemacht. Sich durch nichts irritieren lassen. Seltsame Menschen sind das manchmal, die Messebesucher, Illustratoren, Autoren, Verlagsleute. Skurril. Eigen. Eigenartig.
Die Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna, die wir jetzt zum achten Mal besucht haben (die schönste Buchmesse der Welt), bietet immer wieder Überraschungen, immer wieder Veränderungen. Bei Small World, einem Gemeinschaftsstand von Petra Ediciones aus Mexiko, One Stroke aus Japan, Tara Books aus Indien und Les Trois Ourses aus Frankreich, die wir immer gleich am ersten Tag besuchen, fehlen gleich zwei Hauptakteurinnen: Aude und Anais, die bei den Oursen, wie wir sie nennen, aufgehört haben, um einen eigenen kreativen Weg zu gehen. Es fehlt Anais‘ konzentriertes Zuhören und Audes übersprudelnde Energie. Dafür freuen wir uns auf unser nächstes Treffen mit Joelle, die neu auf der Messe ist, wenn auch nicht neu bei den Oursen. Und bei Katsumi Komagata (One Stroke) hat uns ein neues großes Buch gefehlt, seine neuen kleineren sind schön und nett, aber …
Überhaupt hat uns dieses Jahr etwas Grandioses gefehlt, ein Buch, das unsere Kinderherzen berührt hätte, eines, das magisch ist und das wir unbedingt haben müssen. Sonst gehen wir immer mit einer riesigen Tüte voller Neuerwerbungen nach Hause. Diesmal nicht. Vielleicht sind wir ja auch schleckiger geworden, haben höhere Ansprüche. Suchen das Besondere, das Ausgefallene – und das haben wir dann doch auch gefunden: Das Buch über Lisa, die stundenlang, tagelang, monatelang in der Wiese liegt und fasziniert diese kleine, diese eigene Welt im Gras beobachtet: Trockene Blätter verstecken sich unter dem Grün wie fantastische Tierchen, Blüten sehen aus wie Sterne, wilde Grasbüschel scheinen unzählige Ideen zu hüten. Als sie dann herausfinden will, wohin eine Ameise geht, entdeckt sie ein vierblättriges Kleeblatt und ist entzückt – ihre Oma hat ihr immer welche geschenkt. Jetzt ist sie nicht mehr zu halten, tagein, tagaus sucht sie vierblättrige Kleeblätter: Am 76. Geburtstag ihrer Oma möchte sie ihr 76 vierblättrige Kleeblätter schenken …
Mauro Bellei (Occhiolino Edizizioni) ist ein Magier, und auch dieses Jahr hat er uns mit seinem Buch ›La Fantasia porta Fortuna‹ (Fantasie bringt Glück) verzaubert: Es ist nicht nur die schöne kleine Geschichte, die in einer bildhaft melodiösen Sprache schwingt. Es ist die Komplexität, die gesamte Komposition, das harmonische Ganze in seiner Leichtfüßigkeit: Die ersten elf Buchseiten zieren schöne Fotografien von saftig grünen Kleeblattwiesen, mal ganz nah, mal weiter entfernt, und in jeder Aufnahme versteckt sich ein vierblättriges Kleeblatt, das man suchen muss – die Auflösung ist ganz hinten im Buch. Danach darf man einen Blick in Lisas Tagebuch werfen: Mit hauchfeinem Stift hat sie filigrane Strichmännchen gezeichnet, die an den vierblättrigen Kleeblättern rumturnen oder zwischen ihnen lustwandeln. Monster, die sich hinter den Kleeblättern verstecken, tanzende Linien, rennende Striche, pickende Vögel … Es sind Wünsche und Hoffnungen, Märchen und Ängste – ein bezauberndes und verzauberndes Buch, das die Fantasie anregt.
Auf eine andere Art regt Jean-Vincent Sénac die Fantasie an: Er versucht eine Anleitung zu geben, wie man ein Huhn zeichnet. Ungewöhnlich: ein Franzose mit britischem Humor, passenderweise im Verlag Tate Enterprises, London. Das Zeichnen selbst ist ganz einfach: zwei Striche nach unten, kleine Füßchen dran und obendrauf ein Dreieck als Schnabel. Ach, jetzt hat er den Körper vergessen: »Silly me!«, kommentiert er. Und das Wesen ohne Körper antwortet mit einem trockenen »yes«. Wie weiter also? Ganz einfach: »So to add the body, you need to separate the beak from the legs«. Aber da protestiert das Wesen: »No way!« Immer mehr Verwicklungen gibt es, bis sich dann doch einige Federviecher auf den Seiten tummeln – nicht alle sehen wie Hühner aus. Ein köstliches Buch – wie auch ein anderes, diesmal mit einem Preis bedachtes kleines, ›Still stuck‹ vom japanischen Verlag Bronze Publishing. Es erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der sich zum Gewaschenwerden ausziehen soll. »Das kann ich schon alleine«, sagt er selbstbewusst. Bis er merkt, dass er nicht aus dem Pullover kommt, feststeckt. Ach, macht ja nichts, so kann man auch leben, mit dem Pullover über dem Kopf, die Arme nach oben. Und es gibt bestimmt viele, denen es auch so geht. Auch trinken müsste doch mit einem langen Strohhalm gehen. Aber dann schnappt seine Mutter ihn, zieht ihn aus, seift ihn ein. Und als es dann ans Anziehen geht, meint der Junge: »Das kann ich schon alleine.« Bis er wieder feststeckt. Einfach, sparsam, mit fast comicartigen Illustrationen reizt diese witzig skurrile Geschichte zum Lachen.
Neben dem japanischen Stand ist der Gemeinschaftsstand der Koreaner – auch er einer unserer wichtigsten Anlaufpunkte, meistens jeden Tag einmal. Nicht nur wegen Rachael Kim, die uns am Montag freudig begrüßt und uns am letzten Tag noch ein paar Bücher zeigt, weil sie wohl merkte, dass wir dieses Jahr bei den Koreanern nicht fündig geworden sind. Wir mögen den Stand auch wegen der oft anderen Bildsprache der Ostasiaten. Und vor allem wegen der ungewöhnlichen Begegnungen. Einer, der viel Zeit gebraucht hat, um aufzutauen, ist Cho Sun-kyung, mehr ein Künstler als ein Kinderbuchautor und -illustrator., auch wenn er das in Korea unterrichtet und einen eigenen Verlag gegründet hat, Some Books. Seine Bücher sind, wie die von Komagata, oft mehr Kunstbücher oder Objekte. Wie sein voluminöses Buch, das man aufschlägt und überrascht einen dicken Stein entdeckt. Kein Bild davon, sondern den Stein selber. Unterschrift: »This is not a stone« – eine Anspielung auf Magrittes berühmtes »Ceci n’est pas une pipe.« Und dann zählt er auf, was es alles ist: eine Libelle, ein Tiger, Plato, William Shakespeare … Tausend Dinge. Und er selbst, Cho. Und am Ende dann doch auch ein Stein. Ist das mystisch? Abgedreht? Skurril? Auf jeden Fall ist es ein ungewöhnlicher Blick auf die Dinge. Was sie zu sein scheinen, was sie sein können. Für Kinder ist das einfach: Da ist ein Stein wirklich ein Tiger oder eine Libelle – hörst du sein Brüllen? Schau, wie schön er fliegt …
Stundenlang ließe sich von den Büchern erzählen, von denen einige wieder prämiert wurden. Von William Grills Geschichte eines schlauen Wolfs, der in New Mexiko im 19. Jahrhundert ein ganzes Pack anführte und die Rancher nervte, bis ein Jäger ihn zur Strecke brachte. Der später zu einem der ersten Ökologen Amerikas wurde. Mit Buntstiften einfach erzählt, manchmal skizzenhaft, manchmal in feinen Strichen ausgeführt, und insgesamt ein bisschen wie ein Storyboard eines Films, ist der Band ein würdiger Nachfolger des Shackleton-Buchs von Grill. Es erscheint im Juli im Schweizer NordSüdVerlag: ›Die Wölfe von Currumpaw‹. Darauf freuen wir uns schon.
Auffällig war die Fülle an mit einem Preis oder einer ehrenvollen Erwähnung ausgezeichneten Sachbücher, selbst wenn sie eigentlich zur Kategorie »fiction« zählten. ›A Child of Books‹ von Oliver Jeffers erzählt eher die Geschichte der Kinderbuchliteratur und der Macht der lesenden Phantasie als eine fiktionale Geschichte, ›Teeth Hunters‹ von Wonhee Jo ist der nur sparsam bemäntelte Aufruf, keine Elefanten mehr zu töten, wegen des Elfenbeins. Anders ›I’m out of here‹ von Mari Kanstad Johnsen: Das wortlose Bilderbuch erzählt von einem Mädchen, das in eine andere Stadt ziehen muss und verzweifelt neue Freunde sucht. Dann entdeckt sie einen magischen, leuchtenden Hasen und benutzt ihn, um sich interessant zu machen. Tatsächlich hat sie plötzlich etliche Freunde, aber dann merkt sie, dass das keine echten Freunde sind und der Hase ohne seine Familie ganz traurig ist … Die Geschichte, in kräftigen Farben illustriert, ist bei aller Einfachheit sehr hintersinnig und anrührend.
Viele Migrantengeschichten wurden ausgezeichnet, ein Thema, das viele beschäftigt. Aber auch Grafisches wie ›Spellbound‹, ein Buch der Australierin Maree Coote, die aus den Buchstaben eines Worts, »Lion« oder »Crocodile« das Tier selbst zusammensetzt, mit übersprudelnder Phantasie immer neue Ansätze zeigt und demonstriert, wie sich der Charakter eines Tiers verändern kann, wenn man auch nur einen Buchstaben anders setzt.
Und dann natürlich die Cambridge School of Art, die jedes Jahr einen winzigen Stand irgendwo mittendrin hat, voller engagierter junger Künstler und begeisterter Blätterer – viele dieser Bücher sind noch nicht erschienen, viele Künstler sind noch zu entdecken. Wer weiß, vielleicht wird von ihnen jemand einmal mit einem Preis bedacht wie Wolf Erlbruch, der dieses Jahr den Astrid Lindgren Memorial Award erhielt. Vielleicht die Holländerin Ellen Vesters, die durch die schwere Krankheit ihres Vaters angeregt, ein düsteres, wortloses, nicht ganz zu entschlüsselndes, etwas geheimnisvolles Buch malte …
Stundenlang könnten wir erzählen. Denn die Buchmesse in Bologna ist immer wieder ein Erlebnis, und neben den Büchern kann man auch immer wieder ausgefallenes Schuhwerk bewundern, seltsame Gangarten mancher Besucher, phantasievolle Kleidung oder die Frau, die ihren doch recht großen Hund in einer Tasche mit sich herumtrug. Man kann nette Pressedamen wie Nina Grünberger vom Schweizer NordSüd Verlag kennenlernen. Oder einen berühmten Autor beim Verkaufsgespräch belauschen, wenn er, wie Werner Holzwarth, sein Lieblingsprojekt untergebracht hat – was das ist, wird aber nicht verraten. Und vielleicht kommt dann nächstes Jahr wieder die Schwemme an Grandiositäten, sodass wir zwei volle Tüten nach Hause schleppen. Hinfahren werden wir auf jeden Fall wieder.| SUSANNE MARSCHALL
| GEORG PATZER