Nichts geht rein, nichts kommt raus

Roman | T.C. Boyle: Die Terranauten

Vier Männer, vier Frauen, für zwei Jahre eingepfercht auf engstem Raum: Das ist die neue Thematik des amerikanischen Schriftstellers T. C. Boyle und für ihn ein Grund, einen über 600 Seiten dicken Roman zu verfassen. Das reale Vorbild: Biosphäre 2 in Arizona, das nach zwei erfolglosen Versuchen, ein selbst erhaltendes Ökosystem zu erschaffen, als gescheitert betrachtet wurde. Ergeht es Boyles Roman Die Terranauten letzten Endes genauso? Von TANJA LINDAUER

Boyle - TerranautenBoyle ist dafür bekannt, über ökologische Themen zu schreiben. Es liegt also durchaus nahe, dass er sich auch mit der Frage beschäftigt, ob es möglich ist, ein zweites Ökosystem zu erschaffen, die Ecosphere 2, das mit dem unserer Erde identisch ist: Savanne, Regenwald, Ozean, Wüste etc. Gibt es für uns eine Möglichkeit, woanders weiterzuleben, falls wir die Erde tatsächlich zerstören? Es ist ein spannendes Thema und bietet viel Zündstoff.

Boyle hatte als Inspiration die Versuche in den frühen 1990ern in Arizona zum Vorbild. Es verwundert nicht, dass Boyle sehr gut recherchiert hat und die damaligen Probleme aufgreift: einseitige Ernährung, Stromausfall, Revierkämpfe, blinde Passagiere in Form von Kakerlaken oder die Sauerstoffversorgung. Ganz nach dem Motto »Big brother is watching you« erzählt er, wie die Terranauten zu Versuchsobjekten werden. Für ihn sei zudem die Vorstellung unglaublich sexy: vier Männer, vier Frauen, zusammen in einem Raum eingeschlossen, nichts kommt rein, nichts geht raus.

Unglaublich sexy

Dabei schüttelt er verwegen ein Glas mit Playmobilmännchen (zu sehen auf der Internetseite des Hanser-Verlags). Dass für Boyle die Vorstellung sexy ist, glaubt man bei der Lektüre nur allzu gerne: Denn der Sex und das Zwischenmenschliche sind die dominierenden Themen in seinem 16. Roman. Sex auf der Toilette, am Telefon, vor einer Glasscheibe, im Verborgenen allein oder einfach nur so, weil man eh nichts zu tun hat.

Es knistert gewaltig. Judy, sie gehört zur Führungsetage, schläft mit Ramsay, Linda mit Johnny, ihrem Freund. Und nach dem Einschluss? Stevie mit Troy, Ramsay zunächst mit Gretchen, dann mit Dawn, und die anderen legen eben selbst Hand an oder würden gerne mit einem der Insassen. Was bei diesem munteren Durcheinander rauskommt? Das Übliche: Eifersucht, Streit, Liebeskummer und ein Baby … Aber worum geht es denn nun eigentlich genau?

Wer im Glashaus sitzt …

Mission 2, die zweite Besatzung des Experiments, steht kurz vor dem Einschluss: Der erste Versuch war ein fürchterliches Debakel (bereits nach 12 Tagen musste die Schleuse geöffnet werden, aufgrund einer Verletzung), was es gilt, nicht zu wiederholen. Es wird aus drei Perspektiven erzählt: Ramsay Roothoorp, Kommunikationsoffizier und Leiter des Wassermanagements, Dawn Chapman, Nutztierwärterin, und ihre Freundin Linda Ryu, die nicht ausgewählt wurde, erzählen alternierend ihre Sicht der Dinge. Beinahe euphorisch sind die acht Auserwählten. Sie fühlen sich zu etwas Besonderem berufen, und so vergehen die ersten Monate in Harmonie, dass das nicht so bleibt, ist klar, insbesondere auch mit diesen vielen sexuellen Spannungen.

Immerhin wurden nur diejenigen auserwählt, die jung und schön sind. Wie gemacht fürs Fernsehen? Intrigen und böses Blut sind da vorprogrammiert, und als dann aus den acht Eingeschlossenen schon bald neun werden könnten, fällt die Gruppe auseinander, Lagerkoller inklusive. Und Boyle tut hier das, was er am besten kann: die menschlichen Schwächen entlarven. Und doch fragt man sich: Ist der Mensch wirklich so durchschaubar? So simpel? Denn vielmehr gibt dieser Roman nicht her, weniger (Seiten), wäre hier mehr gewesen. Und doch, Boyle versteht sein Handwerk einfach zu gut und der geneigte Leser bleibt bis zum Schluss mit den Terranauten in ihrem riesigen Terrarium, um gebannt zu verfolgen, was aus dem kleinen Menschlein denn wohl wird.

| TANJA LINDAUER

Titelangaben
T.C. Boyle: Die Terranauten
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
München: Hanser Verlag 2017
608 Seiten. 26.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Lebende Steine und leuchtende Hasen

Nächster Artikel

Prolog einer neuen Welt

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Leben in einer Wirklichkeits-Doublette

Roman | Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze Wilhelm Genazino, der am 22.01.2018 seinen 75. Geburtstag feierte, spricht im Rückblick über seine Schriftstellerlaufbahn von »einem konventionellen, langsamen bürgerlichen Aufstieg«.  2001 hatte Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett des ZDF die Werke des gebürtigen Mannheimes hochgelobt, drei Jahre später gab es den öffentlichen Ritterschlag durch die Verleihung des Georg-Büchner-Preises.Von PETER MOHR

Wenn das Schädeldach brennt

Roman | António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen Alljährlich im Herbst, wenn das Rätselraten um die Nobelpreiskandidaten in die heiße Phase geht, wird seit rund 15 Jahren sein Name stets ganz hoch gehandelt. Der 74-jährige portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes, der viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Lissabon arbeitete, hat nun seinen 25. Roman Ich gehe wie ein Haus in Flammen vorgelegt, der sich wie eine Summe seines bisherigen Oeuvres liest. Von PETER MOHR

Allein gegen die Mafia

Roman | Leonhard F. Seidl: Genagelt Krimiliteratur vom Feinsten: die Endstation für brave Katholiken: Der Erste wird gekreuzigt am Feldrand aufgefunden. Der Zweite baumelt in Halbschuhen erdrosselt vor einer Sitzbank. Die Dritte wird Opfer einer Brandkatastrophe. Der Autor Leonhard F. Seidl kommt in Genagelt einem Serienmörder auf die Schliche. Der Rezensent HUBERT HOLZMANN steht in sicherer, agnostischer Entfernung.

Großvater Kostas ermittelt

Roman | Petros Markaris: Zeiten der Heuchelei

Helle Aufregung in der ganzen Familie von Kostas Charitos und bei all ihren Freunden: Ein Enkel ist da. Am liebsten würde sich Petros Markaris' Athener Mordermittler ab sofort nur noch mit dem familiären Nachwuchs beschäftigen. Doch gerade jetzt wird ein bekannter Unternehmer durch ein Bombenattentat getötet. Also hat der zwölfte Fall für Charitos und sein Team zunächst einmal Vorrang. Zumal noch mehr Menschen sterben müssen, bevor man den Tätern, die ihre mit »Das Heer der Nationalen Idioten« unterzeichneten Bekennerschreiben mit Federkiel und Tusche in Schönschrift verfassen, auf die Spur kommt. Von DIETMAR JACOBSEN

Vögel mit gebrochenen Flügeln

Roman | Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

Hinter dem Ringen um künstlerisches Schaffen und zurückgewiesene Liebe verbirgt sich ein Familiendrama von den Ausmaßen einer griechischen Tragödie. Katya Apekinas Debüt Je tiefer das Wasser kann gleichermaßen als Coming-of-Age-Roman wie Psychogramm ungesunder Beziehungen gelesen werden. Spannend wie ein Krimi ist es ohnehin. Von INGEBORG JAISER