Jugendbuch | Tamara Bach: Mausmeer
Große Schwester, kleiner Bruder. Vernunft auf einer, Leichtsinn auf der Gegenseite. Stimmen die Zusprechungen überhaupt? Was für die einen ein See ist, ist für andere ein Meer. Tamara Bach erkundet listig Größenverhältnisse. Von MAGALI HEIẞLER
»Sei Pippi, sei nicht Annika«, ist ein Satz, den die, die auf den Vornamen Annika hören, oft gesagt bekommen. Annika, Studentin, große Schwester von Abiturient Benedikt, jedenfalls geht es so. Sie kann den Satz nicht leiden, obwohl er zum Ausdruck bringt, welche Rolle sie im Familiengefüge ausfüllt. Die der Vernünftigen, Ausgeglichenen, Verläßlichen. Der Braven. Im Unterschied zum jüngeren Bruder, der für Zirkus und Theater zuständig ist, seit er auf der Welt ist.
Das ist der Grund, warum die Eltern zwar zugelassen haben, dass Benedikt das Haus für die Feier seines achtzehnten Geburtstags für sich hat, aber Annika beigepfiffen, damit sie aufpasst. Natürlich ist Annika gekommen.
Wie unwillig sie den altgewohnten Auftrag übernommen hat, wird ihr erst klar, als sie statt auf der Party meilenweit entfernt landet. Mit ihrem Bruder. Der hat nämlich eine Entscheidung getroffen, die sein Leben – und damit das seiner Familie – grundsätzlich verändern wird. Annika soll die Erste sein, die es erfährt. Vernünftig, wie sie ist, wird sie schon wissen, was zu tun ist in einer Lebenskrise.
Allerdings haben die Geschwister seit Jahren nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Kennen sie sich überhaupt noch?
Angeln
Tamara Bach erzählt nie einfach nur Geschichten, obwohl sie eine großartige Geschichten(er)finderin ist. Das genügt ihr nicht. Sie illustriert, was sie erzählt, mit besonderen Bildern und einer besonderen Sprache. Die Leserin ist gut beraten, sorgfältigst alle drei Ebenen im Blick zu behalten, will sie den höchstmöglichen Gewinn haben. Der Gewinn, auch das ein Charakteristikum von Bachs Büchern, ist gleichermaßen genussvoll wie unangenehm und niemals leicht zu schlucken.
Vom vertrauten Familienszenario über vertrautes Partyambiente wird man jäh aufs Land versetzt, auf Großvaters verlassenen Bauernhof. Dort haben die Geschwister glückliche Kindersommer verbracht, dort, so stellt sich Benedikt vor, kann er am besten aussprechen, was ihn quält. Der Hof liegt an einem kleinen See, Ort des dorfüblichen Osterangelns. Die Angler stehen schon bereit.
Das Angeln findet nicht nur am See statt, auch im Haus wird geangelt. Sie angeln nach dem Gegenüber, genauso intensiv aber nach sich selbst. Die Frage, wer das Geschwisterkind in den letzten Jahren geworden ist, wird unversehens zur Frage, wer man selber ist. Annika, so muss Benedikt feststellen, ist weit mehr Pippi, als er je geträumt hat. Annika ihrerseits wagt zum ersten Mal einen scharfen Blick auf ihre Rolle im Familienspiel.
Wie in den dunklen Wassern draußen ist das, was die Geschwister durchmachen, ein Fischen im Trüben. Wie in den Anglerlegenden lebt etwas tief unten im Schlamm. Ist es ein Fisch, der mit jeder Angelgeschichte größer wird, oder ein Märchenwesen, ein Lindwurm? Gefährlich sind beide, wenn sie aufgestört werden, die Realität wie die Fantasie. Und wird überhaupt etwas gefangen werden nach all den Vorbereitungen?
Die Rituale der kleinen Anglergruppe, ganz realistisch wiedergegeben, verwandeln sich bei Bach in die Rituale der Erwachsenen, denen die Jugendlichen – noch in ihrer Welt verhaftet – durchs Fenster zuschauen. Zuweilen wagen sie sich hinaus, versuchen, mitzumachen, Teil zu werden. Unter den Erwachsenen liegt ihre Zukunft. Sie werden angezogen und wieder abgestoßen, sie kämpfen darum, einen eigenen Platz in der Welt zu finden.
Das ist nicht das einzige Bild, das Bach einsetzt. Ostern ist ein zweites, Märchen (›Brüderchen und Schwesterchen‹) ein drittes großes, aber das Angeln ist das stärkste.
Die Sprache trägt’s
Wie fein verknüpft die großen und kleinen Bilder sind, wie peinlich genau die Autorin arbeitet, erkennt man sicher nicht beim ersten Lesen. Was man jedoch gleich spürt, ist, dass man etwas Besonderes vor Augen hat. Vor allem folgt man der Handlung. Die Geschwister sind nur knapp skizziert, sie sprechen abwechselnd, wobei Annika den Anfang macht und zunächst den größeren Raum einnimmt. Unversehens schleicht sich Benedikt ins Bild, Benifer, nennt ihn Annika einmal, nach Luzifer, Lichtbringer und Gefallener, und das ist keineswegs nur ein Sprachspiel. Nichts ist Spiel hier, obwohl nicht weniges der zeitgenössischen Sprechweise abgelauscht wird, stets nach Pointen angelnd im Wörtergewoge, das unablässig auf- und abrauscht. Schweigen ist Tod. Sprechen die Geschwister nicht, so spricht es aus dem Radio. Dort wird gesagt, welcher Tag es ist, wie das Wetter ist, dort wird vorgesagt. Man muss nur zuhören. Den Liedern auch, das hilft, wenn man selber keine Worte findet, die größte Strafe von allen, scheint’s.
Die Geschwister geben sich Namen, Abwandlungen ihrer eigenen. Ihre vollen Namen verwenden sie zunächst nur im Zorn, sie brüllen sie heraus. Es dauert, bis sie herausgefunden haben, wie sich nennen werden, wie ihre Beziehung sein soll.
Anderes stammt aus der Alltagssprache, ist aber stets ausformuliert. (Ich) ‚Gehe nach links, weil so halt.‘ Es gibt keine Auslassungen, keine Andeutungen, nichts, was sich – angeblich – von selbst versteht. Alles wird klar formuliert, trotzdem hat es doppelten und zuweilen mehr Boden, kein Netz nirgends. Volksliedfetzen und Kennsätze aus Märchen tauchen auf, wenn Erinnerungen lebendig werden. Worte haben Widerhaken, stechen, man verfängt sich in ihren Dornen. Unzerzaust kommt man nicht aus diesem Buch.
Fragen werden viele gestellt in der Geschichte, Antworten sucht man fast vergeblich. Wie Benedikt hofft man auf eine Pippi, die so stark ist, dass sie Hindernisse aus dem Weg hievt wie das Pferd von der Veranda. Und wie Benedikt muss man erkennen, dass man sich getäuscht hat. Die Zukunft bleibt unsicher, den eigenen Weg kann man nur selber gehen. Mit jemandem ehrlich darüber reden, hilft. Immerhin eine Hoffnung, das.
Tamara Bach, mal wieder. Unschlagbar. Weil, Tamara Bach halt.
Titelangaben
Tamara Bach: Mausmeer
143 S. 12,99 Euro
Hamburg: Carlsen 2018
Jugendbuch ab 15 Jahren
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