/

Begegnungen der Warmherzigkeit

Film | Im Kino: Augenblicke – Gesichter einer Reise

Wenn sich die 89jährige Agnès Varda mit dem 33jährigen Streetartist JR auf eine Reise durch ihre Heimat Frankreich begibt, kann das nur eins bedeuten: einen Film voller Kunst und Überraschungen. Und tatsächlich! Beide erkunden die Möglichkeiten der künstlerischen Zusammenarbeit verschiedener Generationen. Dabei entdecken sie nicht nur andere Menschen, sondern finden auch zueinander.
ANNA NOAH freut sich über diese gelungene Dokumentation.

Es sind die einfachen Menschen

Augenblicke Gesichter einer Reise Quer durch Frankreich widmen JR und Agnès ihre Aufmerksamkeit den jeweils ortsansässigen Menschen – Menschen bei der Arbeit ode auchr während des Nichtstuns. Sie sprechen mit ihnen, lernen sie kennen und bringen sie sogar untereinander ins Gespräch. Währenddessen verwandeln sich ganze Landschaften in Bühnen, auf denen die Gesichter der Einwohner dem Betrachter Geschichten erzählen. Denn sie verewigen überlebensgroße Portraits an Fassaden, Zügen oder Containern.

Dazu hat JR seinen Foto-Truck, der wie ein Pixi-Automat funktioniert und vergrößerte Abzüge der Bilder ausgibt. Der Künstler klettert mit seiner Crew auf Gerüste, klebt die entstandenen Fotos auf mehrere Meter hohe Wände – etwa einen Briefträger oder eine neugierige Ziege. Aus der Vergangenheit grüßt den Betrachter ein Bergarbeiter. So besuchen sie idyllische Dörfer genauso wie verlassene Siedlungen, Felder, Strände und Wiesen. Währenddessen lebt ihre Kunst, die ungeschönt das zeigt, was sie vorfinden.
Besonders interessant ist für die Zuschauer ein Gruppenfoto in einer Unterführung. Es zeigt verschiedene Mitarbeiter einer Fabrik, in der Salzsäure hergestellt wird.

Lebende Legenden

Die hoch angesehene Filmemacherin Agnès Varda ist Essayfilmerin und Fotografin. Sie wurde am 30. Mai 2018 runde 90 Jahre alt. Mit JR, der Schwarz-Weiß-Fotos auf Wände im öffentlichen Raum inszeniert, verbindet sie nicht nur ihre Leidenschaft für Bilder, sondern auch ein gewisses Gespür für die Magie des Moments.

Beide sind visuelle Künstler, jedoch unterschiedlicher Generationen, mit verschiedenen Interessen und absolut konträren Arbeitsweisen. Das führt ab und an zu Reibereien. Agnès Varda redet mit den Menschen, JR auch – auf seine Art. Und plötzlich wird aus der ursprünglich künstlerischen Perspektive ein gemeinsames soziales Ereignis. Trotzdem teilen sie ihren Blick auf die Welt – wieder und wieder raufen sie sich zusammen und schaffen Kunst. Diese Nuancen zeigt der Film ebenso eindrücklich wie die Stille, die einkehrt, wenn sie sich im Zug gegenübersitzen.

Die Idee hinter ›Augenblicke: Gesichter einer Reise‹ gefiel nicht nur der Jury in Cannes, wo der Film eine Auszeichnung als bester Dokumentarfilm bekam, sondern auch Hollywood so gut, dass der Film eine Oscarnominierung als bester Dokumentarfilm bekam.

Das Aufspüren von Unvorhergesehenem

Immer wieder spielt der Zufall eine große Rolle in diesem Projekt. Er spült viel Unvorhergesehenes an den Ideenstrand unserer Künstler. Sie begleiten einen Bauern, der ganz allein 800 Hektar Land bewirtschaftet, finden einen Lebenskünstler, der aus Kronkorken Bilder schafft. Fast nebenbei treffen die beiden JRs Großmutter, die auch schon 100 Jahre alt ist.
Am Genfer See bleibt ihnen eine Türe verschlossen – Agnès Vardas langjähriger Freund Jean-Luc öffnet nicht.
Das sind die feinen Randtöne, die den Film im Geiste nachklingen lassen.

›Augenblicke: Gesichter einer Reise‹ hält viele bewegende Begegnungen fest. Am berührendsten ist jedoch die filigrane Freundschaft, die sich langsam zwischen den beiden Künstlern entwickelt.

| ANNA NOAH

Titelangaben
Augenblicke: Gesichter einer Reise
Regie: JR, Agnès Varda
Drehbuch: JR, Agnès Varda
Darsteller/Cast: Menschen Frankreichs
Kamera: verschiedene
Musik: Matthieu Chedid

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Größenverhältnisse

Nächster Artikel

In Memoriam Dieter Schnebel

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Ein Dokument des Exils

Film | Auf DVD: Shadows in Paradise. Hitler’s Exiles in Hollywood Es gibt eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der verlautbarten Empfindlichkeit, mit der man in Deutschland – zuletzt im Zusammenhang mit dem skandalisierten »Gedicht« von Günter Grass – auf Kritik an Israel reagiert, und der historischen Tatsache, dass man nach 1945 in Deutschland ebenso wenig wie in Österreich daran interessiert war oder gar dazu beigetragen hätte, dass die von den Nationalsozialisten ins Exil gejagten Juden, die den Holocaust überlebt hatten, in ihre Heimat zurückkehren. Man wollte sie, um es unverblümt zu sagen, hier nicht haben. Von THOMAS ROTHSCHILD

Dem Hai zum Fraß vorgeworfen …

Film | Im Kino: The Meg Als ein Forschungs-U-Boot angegriffen wird, ist klar: In den Tiefen des Pazifischen Ozeans lauert etwas Großes. Die Zeit für die Crew wird knapp. Manövrierunfähig liegt ihr Hightech – Wasserfahrzeug am Meeresgrund. Ein Fall für einen Tauch- und Bergungsexperten! Doch was dort in der Tiefe passiert, bleibt in der Tiefe! Oder? ANNA NOAH ist gespannt, wie sich die Menschheit diesmal vor der Verderbnis rettet.

Spreu vom Weizen

Film | Im TV: Polizeiruf 110 – Käfer und Prinzessin (RBB), 6. April Das Landleben ist auch nicht mehr, wie’s mal war. Ort der Handlung: Ein Öko-Bauernhof, bewirtschaftet von einer Landkommune. Wie rücksichtsvoll, dass die Leiche in der Jauchegrube des Nachbarhofs auftaucht. »Ach du lieber Himmel. Ist ja furchtbar«, sagt Horst Krause (Horst Krause) beim Anblick der Leiche. Er hat ja völlig recht. Lange Zeit ist nicht geklärt, ob es sich um einen Mord oder um fahrlässige Tötung handelt, doch Olga Lenski (Maria Simon) und Horst Krause ermitteln in alle Richtungen, das ist tröstlich. Von WOLF SENFF

Dead Men Walking

Film | The Walking Dead – Fantasy Filmfest Special »Don’t be afraid, littel girl«, ruft Rick zu dem herumirrenden Kind. Leichen liegen um ihn herum vor der verlassenen Tankstelle. The Walking Dead streifen durch die entvölkerten USA, hungrig auf die vereinzelten Überlebenden der Zombie-Seuche, die Frank Darabont im makellosen Pilot-Film seiner Serien-Adaption des gleichnamigen Comics von Robert Kirkmann, Tony Moore und Charlie Adlard mit grausamer Willkür über eine Handvoll Figuren hereinbrechen lässt. LIDA BACH folgte den filmischen Zombies auf dem Fantasyfilm Festival.

Vom Staat, den es nicht gibt

Film | Filmfest auf der Alster Hamburg, 18. bis 21. September 2014 Zum Filmfest Hamburg wird freiluft auf der Binnenalster ein Vorlauf vom 18. bis 21. September gezeigt, das Filmfest in geschlossenen Räumlichkeiten beginnt am fünfundzwanzigsten. Das Filmfest Hamburg hat traditionell diverse Themenbereiche, in der ›Sektion Deluxe‹ werden Filme aus ausgewählten Ländern oder Regionen vorgestellt: Iran (2013), davor Quebec (2012), auch Finnland (2006), auch Österreich (2005). Von WOLF SENFF