Jugendbuch | Jenni Fagan: Das Mädchen mit dem Haifischherz
Wie stellt man sich ein ›Mädchen mit dem Haifischherzen‹ vor? Haie gelten als brutal und gefährlich. Und ein Mädchen mit solch einem Herzen? Schon beim Anblick des Covers kann man vermuten, dass die 15jährige Anais nicht gerade zimperlich ist. Von ANDREA WANNER
Die Ausgangssituation lässt Böses ahnen. Anais sitzt mit Handschellen in einem Polizeiauto auf dem Weg zum Panoptikum, einer Besserungsanstalt für Jugendliche, die zu jung für den Knast sind. Ihr wird vorgeworfen eine Polizistin angegriffen zu haben, die jetzt im Koma liegt. Anais bestreitet die Tat, kann sich aber nicht genau erinnern – warum, wird im Laufe der Geschichte schnell klar: Anais steckt die meiste Zeit voller Drogen und Pillen und hat ihr Absencen. Jetzt soll also die Jugendhilfe des Bezirks Midlothian weiterhelfen, wo schon längst niemand mehr weiter weiß.
Wer bin ich?
Eigentlich klingt das wirklich aussichtslos: eine gewalttätige Jugendliche, die von nichts und niemandem zu bändigen ist, die Drogen nimmt, kifft, säuft, sich herumtreibt, klaut und sich schlägert, bei der Pädagogen und Psychologen erfolglos alles versucht haben, die aus verschiedenen Heimen geflogen ist, nicht ohne dort vorher Aufstände angezettelt zu haben.
So sieht die Gesellschaft das Mädchen. Als Problem. Für die Fünfzehnjährige selbst ist der Fall klar: Sie ist ein Experiment, gezüchtet aus einem winzigen Bakterium und dann zur Beobachtung in die Welt entlassen. Ohne Chance, denn man will ihr Scheitern sehen. Sie geht davon aus, keine 16 Jahre alt zu werden. Das klingt krank – wenn Anais selbst es beschreibt, klingt es schrecklich, aber nicht nur. Es ist ein auswegloser Albtraum, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt. »Ich weiß, was das Experiment gern sehen würde. Sie wollen sehen, dass ich mich in einer Geschlossenen erhänge. Ein Knoten. Ein Hals. Ein Genick. Knacks.« Das ist Anais Sicht auf die Welt. Das ist ihre Erklärung.
Und dann erzählt sie ihre Geschichte. Sie beginnt im Polizeiauto auf dem Weg zum Panoptikum, lässt ihre Gedanken zurückkehren in Kindertage. Zu den wenigen schönen und den vielen entsetzlichen Momenten, die sie in ihrem jungen Leben schon hinter sich gebracht hat. Plötzlich ist alles ganz anders. Anais entschuldigt sich nicht, steht zu allem, was sie getan hat – aber ihr Blick auf die Welt ist ein anderer. Ein entlarvend ehrlicher, der einen trifft. Was hat man diesem Kind angetan? Auf die Welt gekommen in einer geschlossenen Anstalt, in der sich die Mutter gleich nach der Geburt aus dem Fenster stürzte. Ein erster Name, den man dem Neugeborenen gab: »7652.4 – Sektion 48«. Eine Pflegefamilie reiht sich andere. Dann folgen Heime. »Ich finde Heime sowieso besser, da gibt’s weniger Stress«, resümiert sie.
Die schottische Autorin Jenni Fagan studierte Creative Writing an der Greenwich University und veröffentlichte bisher Gedichte und Kurzgeschichten. ›Das Mädchen mit dem Haifischherz‹ ist ihr erster, viel beachteter Roman, Der englische Titel ›The Panopticon‹ verlagert den Schwerpunkt auf der Ich-Erzählerin, die nicht unzutreffend mit Lisbeth Salander, der Heldin in Stieg Larssons ›Millenium‹-Trilogie verglichen wurde, auf den Ort, an den Anais gebracht wird. Dort trifft sie auf eine bunte Schar extremer Charaktere mit durchaus vergleichbaren Schicksalen. Es sind benachteiligte Jugendliche, Jungs und Mädchen, für die in der Gesellschaft kein Platz zu sein scheint, denen man eine Zukunft verweigert, vor denen die Gesellschaft Angst hat. Fagan vermeidet dabei erstaunlicherweise alle Klischees. Sie lässt ihre Heldin zu Wort kommen. Offen, direkt, schnoddrig, verrückt, schonungslos. O-Ton Jugendliche. Das funktioniert. So wird das Panoptikum nicht zu einem verklärten Ort, an dem ein Neustart gelingen kann, sondern zu einem Zufluchtsort für Gescheiterte. Gegenseitiger Respekt will verdient werden. Es gibt Dinge, die nicht geduldet und entschuldigt werden. Es gibt Trost, Liebe und Nähe. Das zeigt die Liebesgeschichte zwischen der HIV-positiven Isla, Mutter von ebenfalls positiv getesteten Zwillingen, die sich ritzt, und Tash, die auf dem Strich so viel Geld zu verdienen versucht, dass sie und Isla gemeinsam eine Wohnung nehmen können. Zukunftspläne, aus denen nichts werden wird.
Von all diesen Dingen erzählt Anais Hendricks. Manchmal meint man, nicht weiterlesen zu können. Junge Leserinnen brauchen gute Nerven, viele Szenen sind ausgesprochen brutal und ersparen einem nichts. Auf der anderen Seite entwickelt die Geschichte eine ungeheure Sogwirkung, zeigt Zärtlichkeit und Nähe, wo man sie nicht vermutet, So sehen also die Schattenseiten in unserer Gesellschaft aus – nein, übertrieben wird da nichts, sondern sehr offen und differenziert ausgesprochen, was man versucht wegzusperren, auszugrenzen, fernzuhalten von denen, die zu wissen glauben, was richtig ist. Die Verletzungen, die Anis ertragen mussten, sind grausam. Sie träumt sich fort, denkt sich immer neue Biografien aus, in denen bürgerliche, intakte Familien den Rückhalt für das Leben bieten. Erlebt hat sie anderes. Die einzige Pflegemutter, die ihr wirklich nah war, war eine Prostituierte, die Anais tot in der Badewanne fand, ermordet. Es gibt eine letzte Hoffnung, einen Menschen, von dem sie sich wider besseren Wissens noch nicht losgesagt hat. Eine Entscheidung, die Folgen haben wird.
Ein Haifischherz? Es gehört einem ungeheuer tapferen jungen Mädchen, das moralisch integer ist, einen ausgesprochenen Sinn für Gerechtigkeit hat, klug und durchaus ehrgeizig ist. Und dem man einfach zutraut, dass es seinen Weg geht, egal wer ihr dabei Steine in den Weg wirft.
| ANDREA WANNER
Titelangaben
Jenni Fagan: Das Mädchen mit dem Haifischherzen (The Panopticon, 2012)
Aus dem Englischen von Noemi von Alemann
München: Antje Kunstmann 2014
332 Seiten, 19,95 Euro
Jugendbuch ab 16 Jahren
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