Roman | Margriet de Moor: Mélodie d’amour
»Während der Regen in Kübeln vom Himmel herabstürzt, sitzt dort ein Mann in Hemdsärmeln und malt sich aus, wie er mit seiner Frau auf einer anderen Bank sitzt, an einem anderen Ort, und nicht im Regen, sondern in der Sonne. Es wird die ganze Nacht über weiterregnen. Den Mann stört es nicht.« Alles klingt so simpel, so unspektakulär und bieder, und doch eröffnet uns die 72-jährige Niederländerin Margriet de Moor, die in der Vergangenheit auch hierzulande mit Der Herzog von Ägypten (1997), Die Verabredung (2000) und mit ihrem Meisterwerk Sturmflut (2005) beachtliche Erfolge feierte, in ihrem neuen Roman Mélodie d’amour den Blick in tiefe seelische Abgründe. Von PETER MOHR
Während die Autorin in Sturmflut vor dem historischen Hintergrund der Jahrhundertkatastrophe in den Niederlanden eine knallhart-realistische Darstellung des verhängnisvollen Rollentausches der Schwestern Lidy und Armanda favorisierte, steht im neuen Erzählwerk Mélodie d’amour wieder das favorisierte Sujet im Zentrum: die unglückliche Liebe in diversen Spielarten.
Da ist Gustaaf, ein erfolgreicher Unternehmer, der mit Saugbaggern seinen Lebensunterhalt verdient und viele Jahre mit Atie verheiratet war und vier Söhne groß gezogen hat. Irgendwann haben sie sich getrennt, und Gustaaf ist mit seiner zweiten Frau Marina noch einmal Vater geworden. Atie hat dies nie verwunden, ist rasend eifersüchtig gewesen und hat dem Ex-Mann (trotz der gemeinsamen Kinder) Hauverbot erteilt.
Wir befinden uns im November 1970, es ist typisches de Moor-Wetter (es regnet wieder unaufhörlich in diesem Roman), als die vier Söhne die gerade verstorbene Mutter gemeinsam aus dem Haus tragen – am benachrichtigten Vater vorbei. Eine herzergreifend-tragische Szene, die Margriet de Moor mit wenigen Sätzen wie in Stein gemeißelt hat.
Die große niederländische Seelenseziererin lässt uns in ihrem neuen Roman wieder an emotionalen Gratwanderungen teilhaben, auf denen sich gut situierte Normalbürger bewegen, wenn es zu abrupten Trennungen, zu geradezu eruptiven Gefühlsausbrüchen kommt, Kopf und Bauch nicht mehr im Gleichschritt marschieren, und wenn die Begierde das rationale Handeln fast außer Kontrolle geraten lässt.
Gustaafs Sohn, der Archäologe Luuk, lebt in einem ähnlichen Beziehungs-Spannungsverhältnis wie seine Eltern. Er hat mit seiner Frau Myrte zwei Kinder, unterhält aber auch eine Beziehung zur Lehrerin Cindy, die sich große Hoffnungen auf eine feste Partnerschaft macht. Cindy kauft sich schließlich eine Pistole, die sie in ein Geschirrtuch eingewickelt versteckt hält, nachdem Luuk ihr fast emotionslos gebeichtet hat, dass es für eine »richtige Beziehung« nicht reicht und er ihr eröffnete, dass er sich nicht von Myrte trennen werde. »Ich kenne die Waffe innen wie außen. Es ist ein kleines Instrument, Kaliber 22 mit einem Griff, der wie eine Puderdose schimmert, eine echte Frauenwaffe, ja, nein, ich korrigiere: eine Damenwaffe. Ein elegantes Spielzeug, das danach verlangt, ergriffen, in die Hand genommen zu werden.«
Und damit nicht genug: Margriet de Moor schickt den bedauernswerten Luuk noch in eine zweite, nicht minder spannungsreiche außereheliche Beziehungsepisode an die Seite von Roselynde, die nach einer inzestuösen Beziehung zu ihrem Bruder traumatisiert durch den Alltag wandelt.
Margriet de Moor, die ausgebildete Pianistin, die einst wegen ausgeprägter Bühnenangst ihrer Karriere als Musikerin beendete, hat ein formal ausgefeiltes vierteiliges Liebesdrama komponiert, in dem sie die leisen Töne deutlich bevorzugt. Die Streicher und nicht die Bläser treffen Margriet de Moors sprachliche Tonlage am besten. Nur wer so präzise zu beobachten versteht, kann vielleicht den großen Rätseln der Liebe auf die Spur kommen.
Margriet de Moor erklärt nicht das Handeln, sie moralisiert nicht und verzichtet bewusst auch auf eine Parteinahme für eine ihrer Figuren. Aber sie hat mit diesem Roman fraglos die Sinne der Leser geschärft, sie für Zwischentöne sensibilisiert und ihnen über die Lektüre hinaus auch jede Menge Fragen über existenzielle Probleme in Partnerschaften mit auf den Weg gegeben.
| Peter Mohr
Titelangaben:
Margriet de Moor: Mélodie d’amour
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
München: Hanser 2014
378 Seiten. 21,90 Euro