Nach langjähriger journalistischer Tätigkeit, popliterarischer Tristesse und gepflegtem Dandytum legt der 1966 in Frankfurt am Main geborene Eckhart Nickel endlich seinen zweiten Roman vor. Und der hat es in sich. Spitzweg kreuzt gekonnt beiläufig und mit großer Lässigkeit kunstgeschichtliche Sujets mit philosophischen Exkursen und zeitlosen Lifestyle-Themen. Von INGEBORG JAISER
Er gilt gemeinhin als Chronist des kleinbürgerlichen Biedermeiers, als Schöpfer kauziger Charaktere und schrulliger Sonderlinge: der Maler und Zeichner Franz Carl Spitzweg. Doch mitnichten hat er nur eine heile Welt romantischer Idylle geschaffen. Seine kleinformatigen Darstellungen randständiger Einzelgänger – wie Der arme Poet, Der Bücherwurm oder Der Hagestolz – lassen Ironie und hintergründigen Scharfsinn durchscheinen. So mag auch Spitzwegs Position in der Kunstgeschichte von vielschichtigen Mehrdeutigkeiten geprägt sein.
Ähnlich ambivalent springt einem das Cover von Eckhart Nickels neuem Roman entgegen, auf dem ein leicht ausgebleichter Bildausschnitt von Spitzwegs Hagestolz mit neonpinken Versatzstücken geradezu reißerisch aufgepimpt wird. Wie ein komplementärfarbenes Sinnbild für die Gegensätze und Kontraste, denen wir bei der Lektüre gleich begegnen werden. In einem Roman über Kunst und Künstlichkeit, doch vielleicht auch über »Können und Talent? Konsum und Terror? Kapital und Theorie?« Etwas Vorsicht sei angesagt. Denn der Autor könnte uns aufs Glatteis führen, ein intellektuelles Spielchen treiben. Amüsant wird es trotz aller Doppelbödigkeit auf jeden Fall.
Original und Fälschung
»Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.« Mit diesem Statement startet der namenlose Ich-Erzähler seine Geschichte, die sich weder in Zeit noch Raum konkret verorten lässt. Entführt werden wir in den Kunstunterricht einer Abiturklasse. Behandelt wird »Das Selbstporträt im Wandel der Jahrhunderte«. Dass die Lehrerin Hügel gerade die Zeichnung der talentierten Schülerin Kirsten mit dem Kommentar »Ausgesprochen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichkeit« abtut, hat eine unheilvolle Kettenreaktion zur Folge. Oder – wie es später formuliert wird – »nicht nur Schülerstreich mit etwas Hausfriedensbruch, sondern auch noch veritabler Kunstraub.« Menschen und Gemälde verschwinden (und tauchen wieder auf), Irrungen und Wirrungen lähmen die Wahrnehmung. Zuweilen fühlt man sich wie auf der Rätselseite früherer Programmzeitschriften, wo sich unter der Rubrik »Original und Fälschung« zu entdeckende Fehler eingeschlichen haben.
In den Farben von Benetton
Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine komplizenhafte Dreiecksbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler, besagter Kirsten und Carl (hier ist der Vorname Programm), dem Neuzugang der Klasse – einem frühreifen, etwas schnöseligen Dandy, der altmodische Sockenhalter trägt, ein salonfähiges »Kunstversteck« bewohnt und sich abstrusen Zeitvertreiben wie etwa dem Kastaniengolf hingibt. Die sorgfältig ziselierten, anachronistischen Szenerien wirken wie aus der Zeit gefallen, jedoch mit modernen Attributen arrangiert, wie eine schwindelerregende Reise durch die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte. Da gesellt sich Chopin zu Vampire Weekend und Morrissey, Spitzweg zu Balthus, Baudelaire zu Rainald Goetz.
Eine Prise Exzentrik gehört hier schon dazu. Absoluter Wille zum Geschmack ist hingegen dem ausgewählten Cross-Over der Kleidungsstücke abzulesen – allen voran Carls Outfit: »An diesem Tag trug er ein mattgrasgrünes Hemd mit passender Krawatte, darüber einen Fair-Isle-Pullover mit Rauten in Sand und Moos zu einer beigen Chino-Hose und Chelsea-Boots aus dunkelbraunem Wildleder.« Fast stellt man sich einen Wiedergänger des selbst höchst stilbewussten Eckhart Nickel vor.
Sprachliche Eleganz
Nach viel Madeirawein und After-Eight-Täfelchen, philosophischen Gedanken und verquirltem Unsinn mündet das doppelbödige Vexierbild in einer Verfolgungsjagd, bei der selbst Emil und die Detektive ihren Spaß gehabt hätten. Inklusive Flashmob im Museum und Escape Room im abseitigen Depot. Doch an dieser Stelle hat man schon fast den Plot aus den Augen verloren.
Zur artifiziellen Attitüde des Romans trägt in hohem Maße die gekünstelte Sprache bei, verschnörkelt, gespreizt, ein bisschen affektiert und wie aus einer anderen Zeit stammend. Freunde geschraubter Formulierungen werden ihren Spaß haben. Mit großer Lässigkeit streut der weltgewandte Schriftsteller, ehemalige Tempo-Journalist und Tristesse-Royal-Gründungsmitglied Eckhart Nickel zahlreiche literarische und kunsthistorische Bezüge, Anleihen, Zitate ein, denen man nachgehen kann oder auch nicht. Bereits seinem erstaunlich späten Romandebüt Hysteria (2018) hat die Kritik erzählerische Finesse und sprachliche Eleganz attestiert; mit ersten Auszügen daraus gewann der Autor beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 aus dem Stand heraus den angesehenen Kelag-Preis. Schon jetzt fiebern wir dem nächsten Roman entgegen. Und der ist vielleicht wieder »ein gemeiner Überfall der Gegenwart auf alle übrige Zeit.«
Titelangaben
Eckhart Nickel: Spitzweg
München: Piper, 2022
255 Seiten, 22,- Euro
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