Verloren im Dschungel des Lebens

Roman | Javier Salinas: E

»Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?« Um diese einleitenden Fragen aus Ernst Blochs Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« kreist der neue, spielerische Roman des Spaniers Javier Salinas, der hierzulande bereits mit seinem Roman ›Die Kinder der Massai‹ aufhorchen ließ. Von PETER MOHR

Salinas - EDer in Madrid und Köln lebende Autor inszeniert ein assoziatives, biografisches Verwirrspiel, in dem der Erzähler in diverse Figuren schlüpft, aus verschiedensten Epochen und von höchst unterschiedlichen Schauplätzen berichtet. Über allem schwebt ›E‹, der narrative Übervater, eine Figur ohne greifbare biografische Wurzeln, die sich mit viel Esprit Fragmente einer Biografie zusammenfantasiert. Das liest sich schon zu Beginn herrlich amüsant: »Nichts in diesem Buch wäre gewesen, wenn ich der wäre, der ich bin. Wenn ich E wäre. Aber der bin ich nicht.«

Melancholische Figuren auf Sinnsuche

Wenig später taucht vor uns ein russischer Musiker namens Trigorin Gajew auf (der Name deutet auf eine Mischung zweier Tschechow-Figuren hin), der in den letzten Kriegstagen zur Welt kam und von dessen Vater behauptet wird, dass er ein »hervorragender Pianist« gewesen sei. Gesehen hat er ihn nie, wie überhaupt vaterlose Figuren beim 34-jährigen Spanier eine ganz zentrale Rolle spielen. Die Abwesenheit der Familienoberhäupter fungiert als Symbol für die Risse in den Biografien der zumeist tieftraurigen Figuren.

Doch diese liebenswürdigen Melancholiker, entwurzelten Sonderlinge und nonkonformistischen Tagträumer (auf der letzten Seite wird gar Iwan Gontscharows ›Oblomow‹ erwähnt) faszinieren immer wieder mit humorvollen und (auf den zweiten Blick) auch tiefgründigen Apercus. Über ein Treffen junger Leute in Bukarest heißt es: »Die Party muß wohl gut sein, denn das hier hat keinen Sinn.« Ein Schwede möchte in die Haut seines Hundes Otto schlüpfen, eine Irin will zum Buddhismus konvertieren, ein trunksüchtiger Ungar vagabundiert durch Budapest, und alle wirken sie »verloren im Dschungel des Lebens ohne Namen.«

Javier Salinas, der in Madrid parallel Jura und Philologie (»Ich wollte Kenntnisse sammeln. Für einen Autor ist es umso besser, je mehr er weiß.«) studierte, betreibt nicht nur ein biografisches Puzzle-Spiel um die Chimäre ›E‹, sondern er lotet auch die Grenzen des literarischen Erzählens aus. Assoziativ, frech und witzig breitet er seinen Patchwork-Text vor dem Leser aus, den er oft in direkter Ansprache mit in die Handlung einbezieht. Dieser ungebremste, ausschweifende Erzählstrom erinnert ein klein wenig an den Tonfall seines Landsmannes Javier Marías.

Am Ende ist ›E‹ immer noch so wenig greifbar wie zu Beginn der Handlung. Die Auflösung des »Rätsels« lässt uns nach der Lektüre in einem Zustand tiefster Unruhe zurück. Javier Salinas hat uns eine zeitgenössische Odyssee vorgelegt, die prägnant mit dem letzten Wort des Buches zu beschreiben ist: Genial.

| PETER MOHR

Titelangaben
Javier Salinas: E
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen
Zürich: Ammann Verlag 2006
276 Seiten, 19,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Al Capone & Co

Nächster Artikel

Vom Verschwinden des Menschen im Mineral

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf der Suche nach dem Vater

Roman | Gerbrand Bakker: Der Sohn des Friseurs

»Aus irgendeinem Grund hat sich Cornelis nie wirklich vorstellen können, dass in ... wie viel Kilometern Entfernung? dreitausend? zur gleichen Zeit Menschen, die er kennt, sehr gut kennt sogar, Menschen, wie sein Vater, ihr Leben leben. Nicht vorstellen können? Oder wollen?«, heißt es auf der vorletzten Seite des neuen Romans Der Sohn des Friseurs des Niederländers Gerbrand Bakker. Von PETER MOHR

Von Hunden und Menschen

Roman | Sigrid Nunez: Der Freund

Von einem unfreiwilligen Erbe, der Beziehung zu einem eigenwilligen Haustier, aber auch von den überheblichen Gepflogenheiten des Literaturbetriebs handelt Sigrid Nunez siebter Roman: Der Freund – in den USA bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet – macht die angesehene amerikanische Gegenwartsautorin mit einem Schlag auch beim deutschen Publikum bekannt. Von INGEBORG JAISER

Abschied vom Vater

Roman | Karl Ove Knausgård: Sterben Mit ›Sterben‹ beginnt K.O. Knausgård einen sechsteiligen Erzählzyklus. Dem Buch & Autor eilt die Fama eines fortlaufenden Skandals voraus. Der 1968 geborene Karl Ove Knausgård habe mit seinem sechsteiligen autobiografischen Roman-Projekt ›Mein Kampf‹ für heftige Diskussionen in Norwegen gesorgt, weil der heute im schwedischen Malmö lebende Autor den Stoff der Bücher unverblümt aus seinem Leben genommen habe. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Wenn etwas ins Auge geht

Roman | Irene Dische: Schwarz und Weiß Nur selten ist ein Titel so aussagekräftig wie beim neuen opulenten Epos ›Schwarz und Weiß‹ der überwiegend in Berlin lebenden amerikanischen Schriftstellerin Irene Dische. Sie erzählt in ihrem sechsten Roman von der unkonventionellen Liebesgeschichte zwischen einem ungebildeten, dunkelhäutigen jungen Mann aus Florida und der Tochter einer intellektuellen jüdischen Emigrantenfamilie aus New York. Aufsteigergeschichte, Familienroman und Gesellschaftspanorama hätte es werden können, doch über weite Strecken fühlt man sich in eine rasante Woody Allen-Komödie versetzt. Von PETER MOHR

Der vierte Streich des Rentnerclubs

Roman | Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Sie sind gerade auf Entzug, denn ein ganzes Jahr lang haben sie ohne Mord leben müssen. Da geschieht es endlich wieder: Ein Antiquitätenhändler musste ins Gras beißen. Mit fast 80 Lebensjahren trotzdem kein würdiger Abschluss für Kuldesh Sharma. Aber ein guter Grund, um den Donnerstagsmordclub zum vierten Mal in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen. Und natürlich sind sie alle vier – Joyce, die Ex-Spionin, Elisabeth, die so gern Schriftstellerin wäre, der »Rote Ron« und Psychiater Ibrahim – wieder dabei. Denn ohne das Quartett aus der Seniorensiedlung Coopers Chase wäre die Südostküste des Vereinigten Königreichs ein kriminelles Sodom und Gomorrha. Von DIETMAR JACOBSEN