Von einem unfreiwilligen Erbe, der Beziehung zu einem eigenwilligen Haustier, aber auch von den überheblichen Gepflogenheiten des Literaturbetriebs handelt Sigrid Nunez siebter Roman: Der Freund – in den USA bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet – macht die angesehene amerikanische Gegenwartsautorin mit einem Schlag auch beim deutschen Publikum bekannt. Von INGEBORG JAISER
Einst hat die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin und Literaturdozentin, (fast) alles mit ihrem engsten Vertrauten, Kollegen und Mentor geteilt: Alltagsbeobachtungen, Literaturempfehlungen, philosophische Betrachtungen.
Nun ist der beste Freund tot. Er hat sich umgebracht, wohl in der Überzeugung, »dass es für eine Person, die ein gewisses Alter erreicht hat, eine rationale Entscheidung, ein vollkommen vernünftiger Entschluss, sogar eine Lösung sein kann.«
Vielleicht ein nachvollziehbarer Grund für einen notorischen Frauenhelden und promiskuitiven Womanizer, der, deutlich in die Jahre gekommen, unverhohlenen Abscheu vor sich selbst empfunden hat? Denn, »das ist das Alter doch, oder? Kastration in Zeitlupe.«
Der Trost eines warmen Körpers
Zurück bleiben drei Ehefrauen, scharenweise Geliebte, zahllose One-Night-Stands – und die vertraute Weggefährtin. Sie durchlebt schmerzlich alle Phasen der Trauer, vermag jedoch die Sehnsucht nach dem gewohnten Zwiegespräch, nach verständnisvoller Nähe nicht abzuschütteln.
Als ihr das Schreiben wieder möglich ist, liest sie erst ihre eigenen Texte, dann Rilkes Briefe an einen jungen Dichter laut vor. Sich selbst und ihrem Gegenüber, der deutliches Gefallen zeigt. Er ist riesig, wiegt achtzig Kilo, hat haselnussbraune Augen und ein geflecktes Fell: eine arthritische Harlekindogge namens Apollo.
Ein Vermächtnis des Verstorbenen, der offenbar noch zu Lebzeiten seine beste Freundin recht pragmatisch als Nachbesitzerin bestimmt hat. »Sie lebt allein, sie hat keinen Partner, keine Kinder, kein Haustier, sie arbeitet vor allem zu Hause, und sie liebt Tiere.«
Doch in ihrem winzigen New Yorker Appartement sind keine Hunde erlaubt – und eine mietkontrollierte Wohnung in Manhattan aufs Spiel zu setzen, gleicht dem Wahnsinn. Nur durch einen geschickten Schachzug gelingt es, Apollo als Therapiehund zu deklarieren und die Kündigung zu umgehen.
Längst ist die riesige Dogge zur Attraktion in der Nachbarschaft geworden, verleitet Passanten zu spontanen Kommentaren und Ratschlägen. Und natürlich schläft sie nicht auf dem Boden des Appartements, sondern im Bett, das sie vom ersten Tag an in Beschlag genommen hat. Ohne verscheucht zu werden, denn es ist doch »ein erstaunlicher Trost, wenn sich ein großer warmer Körper an dein Rückgrat drückt.«
Überdruss am Literaturbetrieb
Wer nun eine rührselige, gefühlstriefende Hundestory erwartet, liegt jedoch falsch. Auch wenn Apollos Porträt so frappierend lebendig ausfällt, dass man beim Lesen förmlich seinen feuchten Atem und klebrigen Sabber zu spüren glaubt. Doch die Kunst liegt im gekonnten Wechselspiel zwischen der Hingezogenheit zu einem Hund und dem vertrauten Zwiegespräch mit einem Verstorbenen. Wer, wenn nicht ein gleichgesinnter Kollege, könnte sonst den abgrundtiefen Überdruss am Literaturbetrieb verstehen, das überhebliche Gebaren der Studenten, gepaart mit kompletter Ignoranz. Erinnerungen werden wach.
»Sprechstunde. Student A ist frustriert, dass das Studium so viele Lektürekurse erfordert: Ich will nicht lesen, was andere schreiben, ich will, dass die Leute lesen, was ich schreibe.« Noch schlimmer: »Wie kannst du einen Abschluss in Anglistik haben und nicht wissen, dass man hinter ein Fragezeichen keinen Punkt setzt.« Kein Wunder, dass der verstorbene Freund schon Monate vor seinem Freitod das Lehren aufgegeben hat, zutiefst ernüchtert und demoralisiert.
Außergewöhnlicher Genremix
Mit Der Freund ist der bislang in Deutschland weitgehend unbekannten amerikanischen Autorin Sigrid Nunez ein auch hierzulande vielbeachtetes Meisterstück gelungen. Dennoch zweifelt man die Genrebezeichnung Roman fast bis zuletzt an. Haben wir es nicht eher mit einem vielschichtigen Memoir, der Chronik einer Trauer, einem philosophischen Essay, einer schonungslosen Analyse des Literaturgeschäfts zu tun? Möglicherweise sogar mit einer versteckten Anleitung zum Schreiben?
Was auch immer: dieses wundersame Buch ist dermaßen gespickt mit literarischen Zitaten und Querverweisen, mit Anregungen und gedanklichen Impulsen, dass der aufmerksame Leser kaum ein paar Seiten selbstvergessen genießen kann, ohne nicht mit erwachtem Interesse den Quellen nachzuspüren. Die Bezüge reichen von Sainte-Beuve bis Beckett, von Kleist bis Kundera, von Simenon bis Sebald. Ein zutiefst kluges, warmherziges, nachdenkliches und inspirierendes Buch, dessen Grundaussage Natalia Ginzburg bereits vor Jahrzehnten vorweggenommen hat: »Es ist nicht so, dass man hoffen kann, sich schreibend über seine Trauer hinwegzutrösten.«
Titelangaben
Sigrid Nunez: Der Freund
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Berlin: Aufbau 2020
235 Seiten, 20 Euro
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