Man sollte gleich vorweg zwei Irrtümer ausräumen. Irina Liebmanns neues Buch ist alles andere als ein konventioneller Roman, und die ›Große Hamburger Straße‹ ist heute eine kleine unscheinbare Nebenstraße – rund 300 Meter westlich vom Alexanderplatz beginnend, nicht einmal 1000 Meter hinter dem Brandenburger Tor im ehemaligen Ostteil Berlins gelegen. Von PETER MOHR
Die 1943 in Moskau geborene Irina Liebmann nimmt einen erzählerischen Faden aus dem Jahr 1994 wieder auf, als sie diesem Viertel mit ihrem preisgekrönten Werk In Berlin bereits ein literarisches Denkmal gesetzt hatte.
Figuren aus diesem Buch tauchen wieder auf, Eva und Manne sind älter geworden, etwas verbitterter und vom Lauf der Zeit noch stärker ins Abseits gerückt als schon vor einem Vierteljahrhundert.
»Wer zu Fuß unterwegs ist, der spürt den Sog noch deutlicher, in diese kurze Straße einzubiegen, von der er noch vor Minuten nichts wusste, wenn er ein Fremder ist. Warum beschäftigt mich das, Anfang und Ende?«, heißt es zu Beginn dieses historischen Puzzles, das für Autorin Liebmann so etwas wie eine Lebensaufgabe zu sein scheint.
2015 hat sie die Straße vor der Niederschrift des Textes noch einmal aufgesucht, hat Gespräche mit ehemaligen Bewohnern geführt, eigene Erinnerungen, Überliefertes und neue Beobachtungen miteinander vermengt. Irina Liebmann gräbt Schicht für Schicht in der Vergangenheit dieser Straße, legt Jahr für Jahr frei und betreibt archäologische Arbeit, denn sie bleibt nicht an der Oberfläche, nicht im Hier und Jetzt, sondern rekonstruiert Geschichte und Geschichten. Ihre Großeltern lebten in der Straße und wurden 1942 deportiert.
Der Philosoph Moses Mendelssohn (1729-1786) war hier begraben – auf dem Friedhof, der sich einst hinter dem Haus 17 befunden hat. »Ihr Krankenhaus ist katholisch, ihre Kirche protestantisch, und der uralte Friedhof, den es hier einmal gegeben hat, der war jüdisch gewesen«, erinnert sich die Autorin. Cafés, Gasthöfe und Kneipen prägten einst das pulsierende Leben in dieser nur rund 300 Meter langen Straße, in der die wechselvolle deutsche Geschichte unübersehbare Spuren hinterlassen hat.
Irina Liebmann hat ihren Text, der weder der Chronologie noch der Logik folgt, mit Schwarz-Weiß-Fotos eingerahmt, die von einem tristen Grau patiniert zu sein scheinen. Entstanden ist ein anspruchsvolles erzählerisches Patchwork aus vielen unterschiedlichen Fragmenten.
»Ich hab‘ den Kopf voll von Erinnerungen. Mehr als ich wohl in einem Lied erzählen kann«, hieß es in den 1970er Jahren in Reinhard Meys Berlin-Hymne »Ich trag den Staub von deinen Straßen«. So ähnlich scheint es auch Irina Liebmann zu gehen, die ihre und kollektive Erinnerungen schreibend wach halten will. Geradezu trotzig schreibt sie auf der letzten Seite: »Vergessen ist auch Verrat.«
Titelangaben
Irina Liebmann: Die Große Hamburger Straße
Frankfurt/M.: Schöffling 2020
236 Seiten. 22 Euro
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