Die Fantasie mal wieder

Kinderbuch | Janine Wilk: Das Reich der Tränen

Misshandelte Kinder sind ein großes Thema, auch in Büchern für Kinder. Es zu behandeln ist eine große Aufgabe, gerade in Büchern für Kinder. Wichtig ist es, Hoffnung zu vermitteln. Dabei wird allerdings gern auf die Fantasie verwiesen. Auch bei Janine Wilks ›Das Reich der Tränen‹ darf sie wieder mal als Allheilmittel herhalten. So ganz reicht das nicht, meint MAGALI HEISSLER.

Das Reich der TränenMia lebt mit ihren Eltern, ihrem Liebling Goldi, einem Golden Retriever in einer Villa. Dazu hat sie eine Großmutter, bei der sie wunderbar gemütliche Tage verbringen kann. Alles bestens, so scheint es. Tatsächlich ist Mia kein glückliches Kind. Ihre Mutter ist unzufrieden, leicht zu reizen und völlig unbeherrscht, wenn sie ihre schlechte Laune auslebt. Die schlechte Laune ist leicht hervorzurufen. Mia muss beste Leistungen in der Schule erbringen und zu Hause Haushaltspflichten übernehmen, die für sie fast nicht zu bewältigen sind. Jeder Fehler zieht Strafen nach sich, von verletzenden Worten bis zu Prügeln, je nach Laune der Mutter. Der Vater ist keine Hilfe, er gibt der Mutter immer nach. Die Großmutter will sich nicht einmischen.
In ihrer Not erfindet Mia eine Fantasiewelt. Doch diese ist nicht ohne Gefahr, denn den Frieden der Fantasiewelt bedroht die böse Königin Zenoide. Mia muss sich aufmachen und Zenoide besiegen. Der Weg ist weit und voller Gefahren, am Ende lauert die größte.

Parallelen

Wilk ordnet die reale und die fantastische Welt sehr geschickt einander zu. Was Mia erlebt, fließt in ihre Märchenwelt ein. Diese ist wunderschön ausgestaltet, voller Farben, Wunder, Freundlichkeit, Frieden. Zarte, märchenhaft-romantische Illustrationen verstärken das. Hier findet ein kindgemäßes Ausgleichen der Defizite statt, unter denen Mia leidet. Freundin Emily, der geliebte Hund Goldi, der Garten der Villa, all das taucht auch in der erfundenen Welt auf, märchenhaft verwandelt. Goldi etwa wird zum Kometendrachen. Das Lernen fällt leicht, das Leben scheint idyllisch. Erwachsene sind gütig und weise.
Parallelen gibt es aber auch im Negativen. Die Erwachsenen sind nicht aktiv, sie unterstützen Mia nicht. Sie ist auch in der Märchenwelt auf sich allein gestellt. Das macht Mias Abenteuer zunächst einmal spannend, gerade für kleine Leserinnen und Leser. Geschickt verkleidet ist auch die Beziehung zwischen Mia und der bösen Königin.
Andere Parallelen sind eher bemüht. So stehen die Kapitel jeweils unter zum Teil sehr langen Zitaten aus inzwischen kanonischen Kinderbüchern, etwa von Lindgren oder Ende. Da man Mia kaum als Kind wahrnimmt, das sich in Bücher versenkt, wirkt das aufgesetzt und ein wenig gängelnd. Überdies ist ihr Zugang zu ihrer Märchenwelt ein anderer, er erfolgt über die Tränen, die sie weint.

Rührselige Durchhalteparolen

Die Lösung, die Wilk anbietet, überzeugt nicht, weder in der einen noch in der anderen Welt. Zwar werden Mias Erlebnisse auch in der Fantasiewelt düsterer und gruseliger. Die Mia, die die Abenteuer besteht, wird aber auch zunehmend unglaubwürdiger. Sie tritt als eines dieser sonnigen Wesen mit dem reinsten aller goldenen Herzen auf, immer hilfsbereit, immer freundlich, immer den rechten Rat für alle bereithaltend. Natürlich hat sie immer Recht. Das Süßlich-Kitschige nimmt im Verlauf der Handlung zu, sprachlich leider auch. Rührung bricht sich Bahn, es wird ausschließlich an tränenreiches Mitfühlen appelliert. An keiner Stelle werden Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt außer dem schieren Durchhalten.
Ganz ungünstig ist, dass die eigentliche Handlung unvermutet abbricht. Damit stehen die kleinen Leserinnen und Leser mit leeren Händen da. Es gibt eine Erklärung für die Geschehnisse in der Fantasiewelt. Gründe für Mias Leiden in der Realität sind ebenfalls bereits bekannt. Der Sprung zur erwachsenen, glücklichen Mia aber ist viel zu groß. Das ist keine Hilfestellung für das schlimme Grundproblem, das Quälen eines Kinds. Tatsächlich wird hier nur Durchhaltetaktik vermittelt. Man muss einfach an das Gute glauben, sogar in prügelnden Eltern oder in einer Großmutter, die eine im Stich lässt. Irgendwann klärt sich alles und eine rosige Zukunft eröffnet sich. Diese Einstellung ist recht rückwärtsgewandt.

Das Fehlverhalten der Erwachsenen wird nicht klar genug sanktioniert. Gegenwehr scheint nicht gestattet. Fehlende Unterstützung wird nicht eingefordert. Mia leidet und liebt und überwindet eben deshalb. Das ist eine rundum unglückliche Botschaft, nicht nur für ein Kinderbuch.
Am Ende sind, zwar hübsch klein und bescheiden, aber immerhin, die wichtigen Rufnummern bzw. Internetadressen für Kinder in Bedrängnis abgedruckt. Wie kleine Leserinnen auf den Gedanken kommen sollen, Erwachsene um Hilfe zu bitten, nachdem sie gerade erfahren haben, dass Erwachsene in Notsituationen unzuverlässig und passiv sind, fragt man besser nicht.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Janine Wilk: Das Reich der Tränen
Stuttgart: Thienemann 2014
224 Seiten, 12,99 Euro
Kinderbuch ab 11

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