Menschen | Andrea Barnet: Am Puls der Zeit
Am Puls der Zeit branden, aus den engen Korsetts schlüpfen, die alten Moralvorstellungen über Bord werfen und sich komplett neu erfinden – das war in New York zu Anfang des letzten Jahrhunderts vor allem in Greenwich Village und Harlem möglich. Andrea Barnet zeichnet die Porträts von rund einem Dutzend bemerkenswert moderner Wegbereiterinnen nach. Von INGEBORG JAISER
Sie waren Fotografinnen und Journalistinnen, Malerinnen und Sängerinnen, Verlegerinnen und Kunstsammlerinnen. Sie gründeten avantgardistische Zeitschriften, führten legendäre Salons, hielten Vorträge zur Geburtenkontrolle und sangen den Blues. Unter ihnen war die erste Assemblage-Künstlerin New Yorks und die erste weibliche Pulitzer-Preisträgerin für Poesie, eine frühe Pop-Diva und die stolze Erbin eines Kosmetik-Imperiums. Praktizierende Bohemiennes waren sie allesamt – egal ob sie aus prekären Verhältnissen stammten, aus verarmtem deutschem Adel oder aus kosmopolitisch angehauchten Familien.
Harlem und Greenwich Village
So verschieden wie ihre Herkunft waren die Neigungen, die künstlerischen Ausdrucksformen und die Ambitionen dieser Frauen. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: vor dem Hintergrund einer sozialen Aufbruchsstimmung zwischen 1913 und 1930 warfen sie den bislang frigiden Verhaltenskodex der viktorianischen Moral über Bord und erfanden sich von Grund auf neu. Nirgendwo in Amerika war dies eher möglich als in den New Yorker Vierteln Harlem und Greenwich Village, in glamourösen Nachtclubs, literarischen Salons und dadaistischen Zirkeln, zwischen Prohibition und Jazz Age. »Die Vermischung von Klasse und Rasse war zugleich Ausdruck einer Befreiung von der strikten Trennung innerhalb der Gesellschaft und eine gegen sie gerichtete, vergnügliche Grenzüberschreitung.« So wie Mina Loy, die sich selbst als »Anglo-Mischling« bezeichnete, nutzten viele ihre gebrochene Identität, um sich zwischen den Welten einzurichten.
Dadaistische Kostüme
So sehr diese Frauen die Idee der Selbstverwirklichung für die nachfolgenden Generationen ebneten, so sehr sind doch viele Namen, Schicksale und Lebensläufe in Vergessenheit geraten. Wer erinnert sich an die offenherzige Jazzsängerin Ethel Waters? Oder an die exaltierte Margaret Anderson, die in einem Zelt am Strand hauste und jeden Cent in ihre Literaturzeitschrift ›The Little Review‹ steckte? Wer weiß um den noblen Salon der schwarzen Schönheit A´Lelia Walker, die ihren Reichtum einem geerbten Patent für eine Haarglättungslotion verdankte? Wer kennt die Verse der bezaubernd androgynen Lyrikerin Edna St. Vincent Millay? Wer kann sich heute noch die absonderlichen, dadaistisch angehauchten Kostüme der Baroness von Freytag-Loringhoven vorstellen?
Violettes Halbleinen
Mit ›Am Puls der Zeit: Frauen in New York‹ unternehmen wir eine schwindelerregende Zeitreise zurück in eine wilde Ära voll künstlerischer und intellektueller Energien. Geführt werden wir von der kundigen Autorin Andrea Barnet, die seit 25 Jahren für ›The New York Times Book Review‹ und ›Harpers Bazaar‹ schreibt. Damit ist der Edition Ebersbach wieder einmal ein sinnenfreudiges, hochwertig verarbeitetes Lesebuch gelungen: in violettes Halbleinen gebunden, auf den Vorsatzblättern mit Ausschnitten aus New Yorker Stadtplänen versehen, mit 80 authentischen, flirrend betörenden Fotos von Berenice Abbott, Man Ray und Andreas Feininger illustriert. Die zehn vorgestellten Biographien lesen sich allesamt wundersam, bizarr und abgedreht. Ein Jammer, dass die Weltwirtschaftskrise 1929 »das Ende der Party« einläutete. Doch noch immer finden wir in den Lebensläufen und Porträts dieser wegweisenden weiblichen Persönlichkeiten »Erlebnishunger, Neugier, Skepsis«, sowie »kompromisslose Weltoffenheit und Unkonventionalität.« So präsentiert ›Am Puls der Zeit‹ ein faszinierendes Stück weiblicher Kulturgeschichte.
Titelangaben
Andrea Barnet: Am Puls der Zeit. Frauen in New York
Aus dem Amerikanischen von Kyra Stromberg und Lore Ditzen
Berlin: Edition Ebersbach 2014
174 Seiten. 24 Euro