Kinderbuch | Stian Hole: Annas Himmel
Verluste gehören zum Leben. Schon die Kleinen schmerzen. Wie aber geht man mit dem schmerzlichsten aller Verluste, dem Tod, um? Stian Hole zeigt in Annas Himmel einen Weg. Von ANDREA WANNER
Annas Mutter ist gestorben. Sie und ihr Vater müssen sich auf den Weg zur Beerdigung machen. Der Vater drängt, aber Anna ist noch nicht so weit. Satt eines Abschieds in der Kirche und auf dem Friedhof muss sie mit ihrem Vater im sommerhellen Garten auf der Schaukel über alles reden, was ihr auf dem Herzen liegt. Und das ist viel. Wo die Mutter jetzt ist, ob sie im Himmel Bücher lesen kann oder jemanden besucht, den sie schon lange nicht mehr gesehen hat und ob Gott sich über so eine tüchtige Gärtnerin im Himmel freut. Überhaupt Gott. Ob er alles so im Griff hat, wie das sein sollte. Fragen über Fragen, Gedanken, die durcheinanderpurzeln, Erinnerungen an vergangene, heitere Tage.
Abschied
In Holes Geschichte taucht an keiner Stelle das Wort Tod, Beerdigung oder sterben auf. Die Ereignisse lassen sich rekonstruieren aus dem, was man auf den Bildern sieht: den Vater im schwarzen Anzug, mit einem Blumenstrauß in der Hand, roten Rosen. Eine Träne auf dem Gesicht des Vaters. Ein Zimmer mit ungetragenen Kleidern auf dem Bügel, ein fast schon klassisch anmutendes Vanitas-Stillleben in diesem Raum: ein großer, leerer Karton, eine zerrissene Perlenkette, zwei einzelne Damenschuhe, ein Tuch, eine Haarbürste und ein verwelkter Strauß. Alles überflüssig geworden ohne seine Besitzerin, die diese Dinge nie mehr in die Hand nehmen wird.
Das Einzige, was Anna diesem Verlust entgegensetzen kann, sind ihre Erinnerungen an die Mutter, daran wie sie Vögel fliegende Blumen genannt hat und eine Sonnenblume die kleine Schwester der Sonne. Sie malt sich ein Bild vom Himmel, in dem ihre Mutter glücklich weiterlebt mit all ihren Eigenarten, die sie auf der Erde hatte. Es sind Bilder von einer ungeheuren Intensität, ein bisschen verrückt, voller Fantasie, Sonne und Blumen. Helles Himmelblau, Flirrendes wasserblau, leuchtende Blüten in allen Farben dominieren die Doppelseiten. Kein düsteres Schwarz, das Trauer symbolisiert. Dennoch wird Trauer ernst genommen, ist auf allen Seiten zu erspüren. Anna leidet und ihr Vater leidet. Aber Anna geht damit um, öffnet sich und redet über das, was sie beschäftigt. »Wenn Mama nur zurückkommen und mir die Haare flechten könnte«, wünscht sich Anna und drückt mit diesem einfachen Vorgang aus, was sie alles vermisst: Die Berührung ihrer Mutter, das Kümmern und Ordnen, wenn sie die langen roten Locken bändigte, die jetzt lang und ungezügelt wie Flammen züngeln. »Wenn…« und ein resigniertes »Ja, wenn« ist die Antwort des Vaters. Sie wird nicht zurückkommen, das wissen beide.
Zuversicht trotz allem
Für Garmans Sommer wurde Stian Hole 2013 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet In der Begründung der Jury heißt es »Dieses ganz besondere Bilderbuch zeigt, dass man über Angst sprechen muss und dass man ihre Arten und Formen besser verstehen kann. Doch wegreden lässt sie sich nicht.« Bei Garman war es die Angst, bei Anna ist es die Trauer. Man muss darüber reden. Das versteht am Ende des Buchs sogar Annas Vater. Jetzt ist es Anna, die bereit ist zu gehen und ihn daran erinnern muss, dass es Zeit ist. Sie haben ihre Plätze getauscht: Statt Anne sitzt jetzt der Vater auf der Schaukel, einem Platz, dem man mit ein bisschen Schwung dem Himmel ein winziges Stück näherkommen kann.
Hole malt Annas Himmel bunt, vielschichtig, voller Rätsel, Andeutungen und Zitate. Ein Himmel, der zu einer geheimnisvollen Unterwasserwelt wird, durch die Anna und ihr Vater schwimmen. Ein Buch wie eine Magical Mystery Tour, das Dinge auf den Kopf stellt, und einen bei jedem neuen Anschauen neue Dinge entdecken lässt. Ein Himmel, der sich auf nichts festlegen lässt. Niemand weiß, was nach dem Tod kommt, jeder darf sich sein eigenes Bild davon machen.
Den Rahmen für die Geschichte bildet eine kleine gestalterische Idee: Das Vorsatzpapier ist vorne und hinten anders gestaltet. Vorne sind es Nägel, die wie langgezogene Hagelkörner vom Himmel kommen. »Heute lässt da oben jemand Nägel vom Himmel regnen. Das sollte so nicht sein, sagt Papa.« – Annas Antwort ist zu diesem Zeitpunkt noch schüchtern, unsicher geflüstert »Nein … aber morgen sind es vielleicht Erdbeeren mit Honig«. Wer errät, mit welch heiterem Bild das Vorsatzpapier am Ende die Geschichte beschließt? Eine philosophische Geschichte über Trauer, Abschied und Tod, die Zuversicht spüren lässt.
| ANDREA WANNER
Titelangaben
Stian Hole: Annas Himmel (Annas himmel, 2013)
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
München: Hanser 2014
48 Seiten. 14,90 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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