Manchmal spielt einem das Leben übel mit. Gerade wenn man klein ist, kann man sich gegen manche Ungerechtigkeiten nicht zur Wehr setzen. Die Erwachsenen sind einfach stärker. Und dann behaupten sie auch noch, es sei ein Notfall. Durchaus nachvollziehbar, oder? ANDREA WANNER war neugierig.
Hanno ist einfach sauer. Da wird ihm einfach sein Zimmer weggenommen und er muss bei seinem älteren Bruder schlafen. Sein Reich muss er – vorübergehend – an Pien abgeben. Ausgerechnet an die. Pien geht in Hannos Klasse, hat unordentliche Zöpfe, ist total unsportlich und irgendwie kann sie keiner leiden. Hanno auch nicht. Jetzt ist ihre Mutter fort, um sich auszuruhen. Hannos Mutter hat den Notfall erkannt und ist sofort eingesprungen. Kein Problem, Pien kann bei ihnen wohnen.
Das nervt. Und zwar dauernd und aus den unterschiedlichsten Gründen. Die Sache mit dem Zimmer ist das eine, dass Pien aber ständig eine Sonderbehandlung erhält, findet der Junge noch ungerechter. Sie hat nicht mal ein Fahrrad und so findet der Schulweg zunächst zu Fuß statt. Und als sie dann eines hat, stellt sich heraus, dass sie gar nicht Rad fahren kann.
Hanno versucht sich zu verdrücken, wann immer es geht. Er zieht sich in die Werkstatt zurück, wo er an seinen Metalltieren bastelt. Er verzieht sich zu Kees in dessen Fahrradwerkstatt und schüttet ihm sein Herz auf. Aber auch die Ratschläge von Kees und seine Glückskekse helfen nicht wirklich. Und er sieht fassungslos, wie liebevoll seine Eltern mit der Nervensäge umgehen. Er dagegen lästert mit seinen Kumpels über das angeblich stinkende Mädchen, ihre faule Mutter und die ganze lästige Situation.
Die niederländische Autorin Annejan Mieras nimmt den Kummer ihres kleinen Helden ernst. Einfühlsam schildert sie seine Sicht der Dinge und lässt die Leserinnen und Leser schnell ahnen, dass er nur seine eigene Perspektive kennt. Wie Pien die Situation erlebt, ist in Form kleiner Texte aus ihrem roten Heft, in das sie nachts schreibt, zu erahnen. Kleine literarische Miniaturen mit viel Durchgestrichenem entstehen da. Einsichten, für die das Mädchen eigentlich zu jung ist. Aber anders als der umsorgte Hanno hat sie in ihrem Leben auch schon eine Menge mitgemacht. Dafür ist Hanno zunächst blind. Klar, woher soll er auch besser wissen. Die einfühlsame Art der Lehrerin und seiner Eltern nervt und verstärkt seine Ablehnung. Und doch beginnt er zu ahnen, dass man die Dinge vielleicht auch anders beurteilen kann, als er das zunächst tut.
Ihn und die jungen Leserinnen und Leser auf diesem Weg der Erkenntnis zu begleiten, hätte schnell zu einer ziemlich verkitschten Geschichte führen können. Mieras umschifft diese Klippen gekonnt und überzeugt in ihrer Darstellung des inneren Konfliktes eines Kindes. Aber nicht nur Hanno versteht vieles falsch, auch Piens Geschichte entpuppt sich als großes Missverständnis.
Literarisch ist das Buch ein kleines Meisterwerk. Mieras integriert das Gedicht ›Der Augenblick‹ der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska in die Geschichte. Eigentlich unvorstellbar: Verse einer nicht leicht verständlichen Lyrikerin in einem Kinderbuch. Es funktioniert. Der Biografie der berühmten Dichterin stellt sie die der jungen Pien van Putten gegenüber und präsentiert auch sie als Dichterin. Ein raffinierter Trick, denn Pien ist eine ausgedachte Figur. Was auf der Textebene wie durch ein kleines Wunder gelingt, schafft die Illustratorin Linde Faas auf der Bildebene. Lediglich das Cover zeigt die beiden Kinder in einer Schlüsselsituation der Geschichte.
Die Vignetten im Buchinneren sind als Schwarz-Weiß-Zeichnungen gestaltet und zeigen die Metalltiere, die Hanno aus Schrott bastelt. Und tatsächlich spiegeln sie Wut und Trauer, Entsetzen und Neugierde wider und fangen damit auf eine verblüffende und ungewohnte Art die Stimmungen ein. Die Übersetzung von Andrea Kluitmann rundet das Buch ab, dem man einfach viele Leserinnen und Leser und vielleicht den einen oder anderen Preis wünscht. Und wer mag, kann vielleicht auch die Anregung für Glückskekse aufgreifen und selber welche backen und füllen.
Titelangaben
Annejan Mieras: Hanno und der Notfall
(Homme en het noodgeval, 2019)
Mit Illustrationen von Linde Faas
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Hildesheim: Gerstenberg 2022
192 Seiten, 14 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe