Eigentlich sucht Alexander Baran seit beinahe einem Jahrzehnt nach seiner verschwundenen Schwester Szonja. Da trifft es sich ganz gut, dass der ungarische Adlige, der eigentlich Sandor Baranyi heißt, nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und dort bei der Polizei gelandet ist. Als Kommissär, dessen Abteilung »Verbrechen an Leib und Leben« aufzuklären hat, muss er sich aktuell freilich mit seinem Kollegen Florian Meisel um den Fall einer ermordeten Tänzerin kümmern. Bald kommen weitere Todesfälle hinzu. Und auch für die beiden Polizisten wird es immer gefährlicher. Von DIETMAR JACOBSEN
Krimis vor geschichtlichen Hintergründen florieren. Ob im Deutschen Kaiserreich, rund um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, während der Goldenen Zwanziger, in Nazideutschland oder in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg – in all diesen historischen Settings tummeln sich Männer und Frauen auf beiden Seiten des Gesetzes, jagen oder werden gejagt, morden oder werden ermordet. Vorreitern des Booms wie Philip Kerr, Robert Harris oder – in Deutschland – Volker Kutscher sind inzwischen etliche andere Autorinnen und Autoren gefolgt, so dass man kaum noch einen Zeitraum findet, in dem man als Erste oder als Erster seine Geschichte spielen lassen kann.
Auch das Wien der Jahre nach dem Ende von Weltkrieg und Donaumonarchie hat bereits seinen Kommissar und dessen private und berufliche Probleme: August Emmerich, den Helden in bisher fünf Romanen der sich als Autorin Alex Beer nennenden österreichischen Schriftstellerin Daniela Larcher. Nun kommt also mit dem ungarischen Adel entstammenden Alexander Baran ein weiterer Ermittler hinzu. Und gut zu tun bekommt der Mann auch gleich.
Tote Tänzerinnen
Denn noch bevor in der Staatsoper die mit vielen Vorschusslorbeeren bedachte Premiere von Richard Strauss‘ Ballett Josephs Legende über die Bühne gehen kann, findet man eine der Tänzerinnen brutal ermordet am Donaukanal. Eine Zweite wird später das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Freundin. Die jungen Frauen sind fürchterlich zugerichtet. Dass diese Taten mit dem zunächst wie ein Unfall wirkenden, tödlich endenden Malheur eines pensionierten Staatsdieners, der an der Ringstraße unter eine Straßenbahn gerät, zu tun hat, geht Kommissär Baran und dem mit ihm ermittelnden Bezirksinspektor Florian Meisel erst später auf. Zunächst haben die beiden nämlich alle Hände voll zu tun, verschiedenen Spuren, die sich im Umkreis der toten Tänzerin auftun, zu folgen. Sie führen die Kriminalisten ins Milieu der im Zweiten Wiener Bezirk zwischen Donau und Donaukanal schon seit Jahrhunderten lebenden Wiener Juden, in dubiose Lokalitäten, zu »Damen, die bestimmte Dienstleistungen« anbieten und ins Vergnügungsgeschäft rund um den Prater.
Karl Rittner hat für das erste Abenteuer seines Kommissärs Baran gut recherchiert. Sein Held und dessen etwas grober gestrickter Assistent Florian Meisel, der mit Glatze und ausgeprägter Boxernase signalisiert, dass man ihn lieber nicht für dumm verkaufen sollte, bewegen sich in einer Welt im Umbruch. Nach dem Untergang der Monarchie und der Errichtung der ersten Republik sucht das zu einem Zwergstaat geschrumpfte Österreich nach einer neuen Rolle in Europa. Allenthalben sind noch die Wunden zu sehen, die der Krieg schlug. Und dass sich innerhalb von vier Jahren die Zahl der verurteilten Verbrecher verdreifacht hat, weist nicht zuletzt auf die bittere Armut hin, in der weite Teile der Bevölkerung leben. Kein Wunder ist es deshalb, wenn man bei der Suche nach den Schuldigen für die Misere wieder bei denjenigen landet, die seit Jahrhunderten stets herhalten müssen, wenn man den Zeigefinger eigentlich auf sich selbst richten müsste, den Juden.
Ein Jagdausflug im November 1913
Auch in Barans unmittelbarer Umgebung, ja selbst bei seinem Assistenten Meisel stößt der Kommissär auf mehr oder minder deutlich ausgeprägte Ressentiments gegen die in den vergangenen Kriegsjahren zu Zehntausenden aus dem ehemaligen Kronland Galizien nach Wien geflüchteten Juden. Ist das Leben der einfachen Wiener in den Nachkriegsjahren ohnehin schon stark von Armut und Not geprägt, herrschen in den von Juden bewohnten Gegenden Hunger und Krankheiten mit besonderer Brutalität und kommt es dort immer wieder zu pogromartigen Szenen auf den Straßen.
Kein Wunder deshalb, dass der erste Verdächtige im Fall der ermordeten Tänzerin Martha Halpern, ein jüdischer Student namens Mendel Hirsch, Barans Vorgesetzten ganz wunderbar in ihr Schwarz-Weiß-Weltbild zu passen scheint. Und als sich in dessen Unterkunft gar noch eindeutige Beweisstücke für den Mord finden, möchte man den Fall am liebsten sofort abschließen. Doch dem Kommissär ist diese Lösung, bei der man offensichtlich versucht, die Schuld einem Angehörigen jenes Volkes zuzuschieben, das zu allen Zeiten herhalten musste, wenn Schuldige benötigt wurden, die von der eigenen Verantwortung abzulenken hatten, nicht geheuer. Zumal er auf immer mehr Spuren stößt, die in die besseren Kreise der Wiener Gesellschaft führen. Dass sich am Ende seiner Jagd auf einen in höchste politische Ränke verstrickten eiskalten Mörder auch noch das Schicksal seiner im Jahre 1913 verschwundenen Schwester klärt, kann Rittners Held da allerdings noch nicht wissen.
Viel Lokalkolorit und ein genau recherchierter historischer Hintergrund
Die Toten von Wien ist ein Roman mit viel Lokalkolorit, einem genau recherchierten zeitgeschichtlichen Hintergrund – auch Karl Rittner mischt, wie man das aus den Wien-Romanen von Alex Beer kennt, unter sein fiktives Figurenensemble historisch verbürgte Personen wie die berühmte Köchin und Hotelbesitzerin Anna Sacher oder den Leiter der Wiener Gerichtsmedizin, Hofrat Albin Haberda – und zwei Ermittlern, denen man als Leser gern wiederbegegnen würde. Wenn das Finale des Buches vielleicht auch ein wenig zu reißerisch geraten ist, besitzt das Ganze doch zumindest den Vorteil, dass uns sowohl die beiden Polizisten als auch ihr geschworener Gegner für ein weiteres Abenteuer erhalten bleiben. Allein das zweite Buch ist meistens schwerer als das erste – man darf also gespannt sein.
Titelangaben
Karl Rittner: Die Toten von Wien
Ein Fall für Alexander Baran
München: Goldmann 2022
416 Seiten, 11 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe