Kinderbuch/Jugendbuch | Dirk Steinhöfel: Die Weltenträumerin.; Anthony Browne: Abenteuer mit Willi
Wie Bücher funktionieren, was sie mit einem oder einer machen, ist schwierig zu erklären. Was beim Lesen passiert, verstehen nur leidenschaftliche Leserinnen und Leser. ANDREA WANNER zählt sich dazu und fühlt sich von zwei Bilderbüchern mehr als verstanden.
Dirk Steinhöfel hat im vergangenen Jahr Andersens kleine Meerjungfrau illustriert. Wer die Bilder gesehen hat, will mehr. Und so lässt er uns zunächst auf eine geschlossene Tür Blicken und dann durch ein Schlüsselloch spicken. Ein indiskreter Blick. Eigentlich tut man so etwas nicht. Wir sehen: ein Bücherregal, eine ganze Bücherwand. Und ein Mädchen, das nach einem Buch greift, liest. Ganz vertieft ist sie in die Lektüre, der Welt entrückt. Dann blickt sie auf, ein zartes Wesen mit blondem Haar und blauen Augen, in einem zeitlosen Kleid, geht zum Fenster, öffnet es und stürzt sich – in ein Buch.
Der magische Realismus von Steinhöfels Bildern zieht sofort in Bann. Das Mädchen verschwindet in einem Werk, das direkt in die Erde führt. Wie eine Falltür öffnet es sich, eine Leiter führt tiefer und tiefer, die Umrisse undeutlicher. Größenverhältnisse sind diffus und unklar, das Mädchen verliert sich in einer Landschaft, die vertraute Elemente enthält und doch ganz fremd erscheint. Und dann können wir ebenfalls einen Blick in das Buch werfen, das der Ausgangspunkt für diese wundersame Exkursion war. Es ist Jules Vernes Reise nach dem Mittelpunkt der Erde – aber um das herauszufinden, braucht es ein bisschen detektivischen Spürsinn. So wie auch die weiteren Bücher Reisen in ungeahnte Welten initiieren, voller Magie, voller Zauber, voller Rätsel.
Es wird kalt, eisig. Eiskristalle von bizarrer Schönheit stehen im Kontrast zu den bloßen Füßen und dem leichten Kleidchen, in dem das Mädchen noch immer unterwegs ist. Dann wird es heiß, Flammen lodern über die Seiten. Und dann führt ein Weg voller Gestrüpp und verästelter Ranken und Wurzeln zurück, dorthin wo alles begann. In einen Raum voller Bücher.
Robert Falcon Scotts Tagebücher von der letzten Fahrt und der Tragödie am Südpol,
Edward Bulwer-Lyttons letzte Tage von Pompeji und ›Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts‹ von Johann Heinrich Pestalozzis waren die Bücher, die das Mädchen begleiteten, lockten, in fremde, ungeahnte Weiten lockten.
Steinhöfel hat Fotografien des Geologen und Klimaforschers Andreas Pflitsch als Grundlage für seine verfremdeten Szenarien verwendet. Seine Arrangements wirken gleichzeitig vertraut und fremd, bedrohlich und voller Ruhe, jede einzelne Seite ein kleines Kunstwerk für sich. Worte braucht seine Geschichte nicht. Wer mag, kann die Worte von Verne, Scott, Bulwer-Lytton und Pestalozzi lesen und klingen lassen. Aber man muss die Texte, die auf den Blättern eine grafische Funktion erfüllen, nicht lesen. Man darf wie die Kleine träumen und sich dorthin wünschen, wo mithilfe der Fantasie die Orte zur Realität werden. Es ist ein Bilderbuch für eine Altersgruppe, die sich eigentlich nicht mehr auf Bilder verlässt, sondern liest. Diese Geschichte funktioniert rückwärts: Die Bilder rekonstruieren die Texte – und die Texte verweisen dann wieder auf die Bildwelten.
Steinhöfel beendet seine Geschichte wieder mit einer geschlossenen Tür. Vorher haben wir noch etwas über das Mädchen erfahren, über die Kraft ihrer Imagination und dem, was Lesen ausmacht. Wir hätten diese Information nicht gebraucht.
Einen wundervollen Kontrast zu Steinhöfels ätherischer Weltenträumerin stellt Anthony Brownes Willi dar. Der unternehmungslustige Affe zeigt, was beim Lesen alles passieren kann, und startet die zehn Episoden des Bilderbuchs mit einem treffenden Vergleich: »Jedes Mal, wenn ich durch diese Tür gehe, geschieht etwas Unglaubliches.« Es ist das, was beim Lesen passiert. Jedes neue Buch, jede neue Geschichte wird zu einem unglaublichen Abenteuer, das man mittendrin miterleben kann. Browne hat für seinen Helden dafür zehn Klassiker der Weltliteratur ausgewählt: Zum Staunen, Mitfiebern und Mitraten.
So findet sich Willi zunächst als Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel wieder, nur in Begleitung eines Hundes und eines bunten Papageien. Da entdeckt er an einem Freitag einen Fußabdruck im Sand. Browne lässt Willi die Situation in wenigen Sätzen skizzieren. Zum Text auf der linken Buchseite gibt es rechts eine ganzseitige Illustration, die die Atmosphäre der Geschichte einfängt, gleichzeitig aber immer auch augenzwinkernd aufs Lesen verweist. Hier ist es beispielsweise vor dem türkisfarbenen Meer und dem goldgelben Sand eine Palme, deren Stamm aus gestapelten Büchern besteht. Mehr nicht. Nur noch die direkt an den Betrachter gerichtete Frage: »Was glaubst du: Wessen Fußabdruck war das?« Jetzt gibt es mehrere Möglichkeiten: Entweder man kennt Robinson Crusoe und weiß, wem der Fußabdruck gehört. Oder man kennt ihn nicht und spekuliert einfach. Oder man kennt ihn nicht, will aber unbedingt wissen, wer da außer Willi auf der einsamen Insel ist. Diese Variante öffnet die Tür zu einem anderen Buch.
In einer anderen Geschichte lässt sich Willi von einem Mönch in rotem Gewand über einen Fluss tragen. Er verrät auch den Namen des Mönchs, Bruder Tuck. Und dann fällt er noch in ein Kaninchenloch, klettert an einem Zopf an einem torlosen Turm, der ganz aus Büchern besteht, hoch, wird von einem Wirbelsturm mitsamt des kleinen Hauses – ebenfalls ganz aus Büchern –, in dem er sich befindet, davongeweht …
Willis Abenteuer sind eine Hommage an die großen Schriftsteller und Illustratoren, die Anthony Browne zu seinem Werk inspiriert haben. Sie machen neugierig auf die Welt der Geschichten, zeigen ihre unendliche Vielfalt und erzählen davon, dass jedes Buch wie eine Reise ist, die man macht. Und dass nach jedem Ankommen der Aufbruch zu einem neuen Ziel folgt.
Das ist Lesen. Schöner als in diesen beiden Bilderbüchern kann man es nicht erklären.
Titelangaben
Dirk Steinhöfel: Die Weltenträumerin
In Zusammenarbeit mit Andreas Pflitsch
Hamburg: Oetinger 2015
88 Seiten, 19,99 Euro
Bilderbuch ab 14 Jahren
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Anthony Browne: Abenteuer mit Willi
(Willy’s Stories, 2014). Deutscher Text von Peter Baumann
Oldenburg: Lappan 2015
32 Seiten, 12,95 €
Bilderbuch ab 7 Jahren
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