Viele Kinder, die in der Stadt aufwachsen, kennen die Natur überhaupt nicht mehr. Um dem ein wenig entgegenzuwirken, kommen zurzeit immer mehr Bücher auf den Markt, die jungen Lesern einen Zugang dazu verschaffen sollen. Auch Bilderbücher wie das von Patricia MacLachlan und Francesca Sanna. Von GEORG PATZER
Gemütlich liegt sie mitten im Schnee, träumt. Macht ein Auge auf und linst nach links. Ein kleiner Vogel hat sich dort hingesetzt und schaut zu ihr. »Sie hört emsige Frühlingsgeräusche: die Hacke im Garten, das Krächzen der Krähen.« Vögel und Schmetterlinge fliegen herum, es sprießt und wächst, die ersten Blumen lugen aus der Erde. Sie sieht auch die kleinen Dinge: »das stille Samenkorn, die silbrigen Fäden der Spinne, das Rotkehlchen und die Zaunkönige«. Ebenso sieht sie auch das Große, »den langflügeligen Albatros über dem Meer, den Maulwurf unten im Dunkel«, sie hilft den Tierjungen, dem Zebra, dem Affen, zur Mutter zu finden, »sie pflegt die Prärie, wo gesprenkelte Wildpferde rennen durch wisperndes Gras.«
Das ist Mutter Natur, »meine Freundin Erde«, die über alles wacht, es beschützt, hegt und pflegt. Die kleinen wie die großen Tiere, das Mächtige und das Unscheinbare. Sie »gießt Sommerregen« – manchmal auch zu viel, sodass Städte überschwemmt werden: »Dann trocknet sie das Land.« Sie pflegt »die Tundra, wo Rentiere Flechten fressen; und das glitzernde Eis, wo der kleine Eisbär trotz allem keine kalten Füße hat«. Sie wacht über »alle Wesen in allen Meeren: die Mantarochen, schwarz wie Schatten; die leuchtend bunten Papageienfische«, Krillkrebse und Wale. Der Wind ist mal heftig, mal sanft, der Schnee im nächsten Winter bedeckt »still wispernd« die Höhlen, »in deren weichem Dunkel kleine schwarze Bären geboren werden«. Und bewacht das kleine Samenkorn und wartet, bis es im nächsten Frühling zu einer blühenden Blume wird.
Es ist ein seltsames Buch, dieses »Meine Freundin Erde« von der us-amerikanischen Texterin Patricia MacLachlan und der sardischen Illustratorin Francesca Sanna. Schwankend zwischen poetisch und pathetisch und mit seltsamen Interpunktionen, tut sich das Buch schwer damit, die Natur wirklich zu fassen. Es kommen zwar auch Schimpansen und Zebras vor, aber vor allem bezieht sie sich auf die nördlichen Breiten, auf ein ländliches Nordamerika.
Ein wenig verkitscht
Und es ist ein wenig verkitscht. »Alles ist gut« ist die Botschaft. Dass die Natur auch grausam ist, dass sie Zerstörungen, Eiszeiten und Überschwemmungen auch ganz ohne das Zutun des Menschen hervorbringt, dass in frostbeißenden Wintern oder in trockenen Sommern viele Tiere verenden, dass es oft Fressen oder Gefressenwerden heißt, das kommt hier nicht vor – als wenn alle Tiere Veganer wären. Ja, es wird sogar beschönigt: »Dann trocknet sie das Land« heißt es einmal nach zu viel Regen.
Was passiert da mit den Tieren, Menschen und Pflanzen? Und ein anderes Mal, dass »heftige Herbstwinde« durch die Bäume fahren und »Schindeln von den Scheunendächern« fegen. Wie putzig. Zu diesem Kitsch passt auch, dass »Freundin Erde« ein kleines farbiges Mädchen mit großen Augen ist: Ich verstehe ja, dass man die Protagonistin auf das Zielpublikum zuschneidet. Aber passt das Kindchenschema wirklich auf die so vielfältige »Freundin Erde«?
Die Natur durch die vier Jahreszeiten und »Freundin Erde« zeigen sich in einer üppigen Bildwelt mit gelungenen, abwechslungsreichen Perspektiven: So sieht man etwa das Rentier mit seinem prächtigen Geweih und den Eisbär, der mit der »Freundin Erde« vor dem Loch im Eis sitzt, von oben. Gestaltet ist das Buch mit der aufwendigen Lasercut-Technik, die schöne Durchblicke durch Löcher auf die nächste Seite gestattet und den Leser durch die Geschichte führt.
Und die Zeichnungen von Sanna sind sehr lebendig: Man meint fast das Rauschen der Blätter zu hören, das Pfeifen des Winds, das Gurgeln der Bäche. Die Gespräche der Tiere im Meer oder der Zebraherde. Bei der es allerdings im Text heißt, dass sie »alle schwarz-weiß gestreift sind«, auf dem Bild aber mindestens die Hälfte braun-schwarz ist, eines sogar weiß-rot.
Insgesamt ist das Buch mit seinen Schwächen und Ungenauigkeiten zu oberflächlich und zu platt, hat zu viele Klischees und einen viel zu mächtigen moralischen Zeigefinger, hinter dem die schönen Geschichten verschwinden.
Titelangaben
Patricia MacLachlan / Francesca Sanna: Meine Freundin Erde
(My friend Earth, 2020), übersetzt von Thomas Bodmer
Zürich: NordSüd Verlag 2020
44 Seiten, 18 Euro
Ab 4 Jahren
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