Er liebt mich, sie liebt mich nicht und alles ist doch einerlei

Roman | Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen

Die französische Schauspielerin und Autorin Yasmina Reza bringt in ihren Theaterstücken Dreimal Leben (2000) oder im Gott des Gemetzels (2006) Szenen aus dem scheinbar so harmlosen Alltag auf die Bühne. Als ganz großes »Theater«. Auch in ihrem neuen Roman Glücklich die Glücklichen beleuchtet sie wieder dieses alltägliche Nebenbei in Begegnungen, Beziehungen. Ob auch diesmal wieder aus dem Einerlei von Paaren, ihren Diskussionen, ihrem antrainierten Schweigen, ihrer Flucht in Affären Mord und Totschlag entsteht, fragt HUBERT HOLZMANN.
Reza_24482_MR.inddYasmina Reza eröffnet ihren Reigen der 21 kurzen Romankapitel in Glücklich die Glücklichen mit einer theaterreifen Szene im Supermarkt. Robert und Odile schieben den Einkaufswagen, Robert hat nicht das Gewünschte gekauft. Weigert sich jedoch erneut in die Schlange der Wartenden einzureihen. Ein minimaler Auslöser hat große Wirkung zufolge, einen öffentlichen Eklat. Schon meint man das Ende der Story abschätzen zu können, denn die Eskalation scheint nicht mehr aufzuhalten. Doch die Autorin unterläuft die Erwartungen ihres Publikums. Odile verschließt sich, verstummt. »An den Kassen ist natürlich auch eine Schlange. Wir stellen uns in diese tödliche Reihe, ohne ein Wort.«

Odile wahrt – wie in einem weiteren Kapitel – allerdings immer den Schein. Vor ihren Freunden, den Hutners, die einen verwirrten Sohn haben. Dieser hält sich im Übrigen für die Sängerin Celine Dior und wird deswegen in eine Anstalt eingeliefert: »Jacob überschritt frohgemut die Schwelle der Klinik, überzeugt, er beträte ein Aufnahmestudio. Eine Art Studio-Hotel eigens für Stars von diesem Kaliber…« Mehr Schein als Sein. Und Odile, eine erfolgreiche Anwältin, Ehefrau und Mutter, beherrscht dieses gesellschaftliche Spiel perfekt.

Und hat doch längst einen Liebhaber: Rémi Grobe. Der jedoch ebenfalls nicht nur einen „Stein“ im Spiel hält. Noch am Wochenende während einer Geschäftsreise zusammen mit Odile plant er ein neues Date mit der Regisseurin Loula Morena. Denn allen Figuren geht nicht um Umsturz, Revolte, Veränderung. Sie wollen Glück auf der ganzen Linie. Ob sie es erlangen, bleibt fraglich: »Morgen Abend wird Odile bei sich zu Hause in ihrer gemütlichen Blase sein, bei ihren Kindern und ihrem Gatten. Und ich weiß der Teufel wo.«

Mitspieler, Gegenspieler

Nerven zeigt, in einem weiteren Abschnitt, wenn auch nur punktuell, ein in die Jahre gekommener »Spieler«, Raoul Barrèche, der seine Frau Hélène öffentlich zur »Minna« macht, weil sie bei einem Bridgeturnier die falsche Karte ausspielt. »Was macht Hélène? Was macht eine Frau, der ich alles beigebracht habe und die man inzwischen als Pik-Spielerin einstufen kann? Sie spielt Karo zurück… Am Ende der Partie zeigte ich meinen Treff-König und schrie, wo soll ich den jetzt hintun?« Und Raoul frisst seinen Ärger sprichwörtlich in sich hinein: »Ich wedelte ihr mit der Karte vor der Nase herum und stopfte sie mir dann ins Maul.« Die Folge: Spielausschluss und endlich wirklich einmal Zeit für die Frau. Beim Spaziergang auf der Promenade kann er ihr seit Langem wieder einmal begegnen und öffnet sich für ihre Wünsche. Rührend!

Ebenso zufällig wie nebenbei blickt Yasmina Reza in ein Wartezimmer eines Bestrahlungsarztes und belauscht eher zufällig ein Gespräch. Die Situation: Die alte krebskranke Mutter und ihr Sohn Vincent warten auf einen Termin, neben ihnen sitzt ein älterer, ebenfalls vom Krebs gezeichneter Mann. Die Wartezeit soll ein Ratespiel verkürzen, in das sich der Nachbar einmischt. Die Unterhaltung der beiden älteren Menschen ist ein dialogisches Meisterstück. Konversation ganz nach alter Schule. Und die Autorin führt die Kamera aus der Perspektive des Sohnes.

Vincent gerät in den Hintergrund, wird zum Beobachter eines harmlosen und doch so charmanten Gesprächs. Die Form bleibt die ganze Zeit über gewahrt, bis sich der ältere Mann verabschiedet. Die Mutter – erleichtert oder vielleicht doch geschmeichelt – »zieht eine Puderdose und einen Lippenstift hervor und sagt, er hinkt, der Arme, was meinst du, hat er sich in mich verliebt?« Parallel dazu bemerkt Vincent die Sprechstundenhilfe Virginie, nicht absichtslos. Später wird sich zudem herausstellen, in welcher Kalamität der behandelnde Arzt Philip Chemla steckt. Hat doch auch dieser ein Doppelleben. Dies nun als bloßen Freizeitstress abzutun, wäre wohl eher untertrieben. Sein erster Satz »Ich würde gern das Leid der Liebe spüren«, lässt den dringenden Therapiebedarf erahnen.

Yasmina Reza, die Meisterin der Steigerung, hält in Glücklich die Glücklichen eher die Balance, gibt die Zügel nicht frei zum Parforceritt, setzt nicht auf Eskalation der Emotionen. Die französische Schriftstellerin stellt unterschiedliche Paare vor, alle irgendwie miteinander bekannt, befreundet, verwandt. Sie wechselt die Perspektiven, pendelt zwischen den einzelnen Paaren. Und beweist immer einen feinsinnigen Humor, der über diesen meist doch sehr destruktiven, allesamt auch mittelmäßigen Beziehungsdramen schwebt.

Und gerade dadurch erschafft sie Helden. Helden des Alltags. Helden, die am Ende ihrer Tage vielleicht alles überstanden haben. Jedenfalls das so herbeizitierte »Glück«: »… und dann sahen wir am Ende der Angelschnur einen kleinen verschreckten Fisch zappeln. Das verschreckte wiederum uns, Ernest, du sagtest, was machen wir denn da, was machen wir nur? Ich schrie, lass ihn wieder frei, lass ihn frei! Es gelang dir, ihn loszumachen und wieder ins Wasser zu werfen. Umgehend packten wir alles zusammen. Auf dem Rückweg fiel kein Wort, wir waren ziemlich bedrückt. Und plötzlich bliebst du stehen und sagtest: Zwei Titanen.

Im Übrigen ist es durchaus wohltuend, in einem französischen Roman einmal nicht mit Verweisen auf französische Soziologen und Psychoanalytiker konfrontiert zu werden. Yasmina Reza braucht keine Autoritäten zu zitieren. Es ist der Alltag, der viele Fragen offen lässt: »Wo geht’s hin?, fragte er. Diese drei Worte warfen mich über den Haufen. Wo geht’s hin, als hätten wir uns gestern Abend das letzten Mal gesehen. In demselben Ton wie früher, als hätten wir in unserem Dasein nichts anderes getan, als uns im Kreis zu drehen.« Yasmina Rezas Glücklich den Glücklichen ist ein durchaus schwungvolles Beziehungskarussell mit all seinen Macken und Tücken.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
München: Hanser 2014
176 Seiten. 17,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Tief im dunklen Wald

Nächster Artikel

Schuld bleibt immer

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Monolog einer Sprachlosen

Roman | Emmanuelle Pagano: Die Haarschublade Als sie mit fünfzehn Jahren Pierre, ihr erstes Kind, bekommt, muss sie von der Schule abgehen. Ohnehin hatten sie der Unterricht und die Bücher angeödet, denn sie wollte doch später nur eines: Friseurin werden. Als sie aber mit knapp achtzehn Jahren Titouan, ihren zweiten Sohn, in einer Neujahrsnacht zur Welt bringt, zieht die junge alleinstehende Mutter in eine winzige Bleibe im fünften Stück eines Hauses im »Zigeunerviertel« ihres mittelalterlichen Geburtsorts in Südfrankreich, durch dessen enge Gassen Touristen stolpern. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Lockdown im Slough House

Roman | Mick Herron: London Rules

Zum fünften Mal müssen sie Kopf und Kragen riskieren: Jackson Lamb und die unter seiner Führung stehenden aussortierten Agenten des MI5. Denn nachdem die halbe Einwohnerschaft eines idyllischen Dorfes in Derbyshire von einer fünfköpfigen Söldnertruppe ausradiert wurde und mitten in London ein Pinguingehege in die Luft geflogen ist, versuchen sich dunkle Kräfte auch noch an einem Anschlag auf Lambs Computerspezialisten Roderick Ho. Spätestens jetzt wachen das »dösende Nilpferd« Lamb und seine »lahmen Gäule« auf und beginnen, Antworten auf Fragen zu suchen, die ihnen niemand gestellt hat. Doch Unruhe bei den Kaltgestellten wird auch in der Geheimdienstzentrale am Regent's Park registriert. Und damit Lamb und die Seinen nicht noch mehr durcheinanderbringen, verhängt man über das »Slough House« kurzerhand einen Lockdown. Von DIETMAR JACOBSEN

Erotik oder Fernsehen?

Roman | Helmut Krausser: Trennungen, Verbrennungen »In Wahrheit bin ich absolut größenwahnsinnig. Ich wollte immer der beste Schriftsteller überhaupt werden. Als ich es dann geschafft hatte, war es gleich langweilig«, hatte Helmut Krausser vor einiger Zeit in einem Interview bekannt. Understatement ist nicht seine Sache, Krausser mag die klare Kante und das offene Wort. Der Schach- und Backgammon-Liebhaber, der mit gerade einmal 54 Jahren nun schon seinen 16. Roman vorlegt und der darüber hinaus auch äußerst fleißig Erzählungen, Gedichte, Tagebücher, Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlichte, pendelt oft und gern zwischen hohem künstlerischen Anspruch und klischeehaften Vereinfachungen. Hier sein neuester Roman

In den Träumen lesen

Roman | Peter Høeg: Durch deine Augen Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, die Gedanken anderer Menschen lesen und sichtbar machen zu können und durch deren Augen zu sehen. Genau darum und um den schmalen Grat zwischen subjektiver Erinnerung und faktischer Realität geht es im neuen Roman Durch deine Augen des dänischen Schriftstellers Peter Høeg. Von PETER MOHR

Pilgern für Fortgeschrittene

Roman | Stephan Thome: Fliehkräfte Nur zwei Romane hat Stephan Thome bislang verfasst – und beide landeten umgehend auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis: 2009 sein fulminantes Debüt Grenzgang und wenige Jahre später seine weit verzweigten Fliehkräfte. Von INGEBORG JAISER