Selbstverständlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Selbstverständlich

Der Norden ist kühl. Im Winter fällt Schnee. Im Herbst fallen Blätter. Unter den Weihnachtsbäumen liegen Geschenke.

Wir atmen Luft, wir trinken Wasser, Kirschen sind süß, wir ernähren uns von den Früchten der Erde.

Wenn es regnet, stehen Stiefel bereit, wir spannen einen Schirm auf, und gegen eine stechende Sonne schützt eine getönte Brille, krumm kann nicht gerade werden noch, was fehlt, gezählt werden, suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit, behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit, es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Bei Tagesanbruch geht die Sonne auf, am Abend versinkt sie im Meer, und Finsternis breitet sich über das Land, unter vollem Mond erblüht romantische Stimmung, auf der Heide stehen Birken und Wacholder, der Kirchenchor trägt eine Motette vor, Musik von einer Orgel wird allgemein als laut empfunden.

Es geht voran, die Dinge entwickeln sich innovativ, Fortschritt ist unverkennbar, eine Woge der Euphorie brandet an alle Ufer, wir müssen die Wirtschaft fördern, besonders in diesen Zeiten von Covid-19, das Ziel steht allen vor Augen, doch leider lähmen Widerworte das Momentum, man ist sich nicht einig, die Ereignisse überstürzen einander, alles in allem steuern die Verhältnisse auf eine Katastrophe zu, unverkennbar, nüchtern betrachtet, die Lage ist ernst, lauthals gepriesene Errungenschaften geraten in Mißkredit, die Geschwindigkeit ließe sich immerhin drosseln, hinter den Kulissen wird mit aller gebotenen Vorsicht einem Rückbau das Wort geredet, eine Wende täte not, dann würde es angenehm still.

Der Blitz schlägt ein, ein starker Ast der Sumpfzypresse bricht und stürzt herab ins Wasser, der eben noch machtvolle Baum, allem Anschein nach unverwüstlich, nun aber entstellt, ein Schatten seiner selbst, ist bestimmt, abgeholzt und zerlegt zu werden.

Im Hafen werden Container verladen, die Abläufe sind digital gesteuert, jedoch es ist nicht lange her, daß noch Kranführer hoch oben in ihren gläsernen Kästen saßen, und plötzlich sind sie entbehrlich, weshalb, unversehens herrschen andere Zeiten, die hochempfindlichen globalen Lieferketten sind lückenlos getaktet.

Grundpfeiler der westlichen Kultur weisen Risse auf, altvertraute Gäste bleiben zu Hause, Veranstalter melden Konkurs an, der Flugbetrieb ist eingeschränkt, nichts ist wie zuvor, Party und Sause sind verpönt, die Szene verstummt, und wie kann man das Leben unter Bedingungen von Covid-19 überhaupt als einen Film gestalten, die Welt steht kopf, man möchte das nicht glauben, sogar dem Fußballgeschäft geht der Atem aus.

Nachts ist das Wasser pechschwarz. Der Mond rollt einen entzückenden silbernen Pfad aus.

Die Haustür hat sich verzogen, sie schließt nur schwerfällig, die Fenster klemmen, das Haus ist verwohnt, die Dinge sind reparaturanfällig, der Nachbar hat vorsorglich Fenster und Türen aus Plastik einsetzen lassen.

[Fremdtextpassage aus Kohelet]

| WOLF SENFF

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Maschinen-Wesen

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Wir müssen noch viel lernen, damit wir die Dinge verstehen können, Tilman.

Nein, sie liegen nicht einfach. Bereits der Übergang zur Dampfschiffahrt, so heiße es zurecht, sei ein verhängnisvoller Schritt gewesen, das sähen die Männer auf dem Walfänger genauso, man habe lange nichts von ihnen gehört.

Das Maschinenwesen greife nach der Macht?

Ob sich das so beschreiben lasse, Anne? Maschinenwesen? Vielleicht, daß es vor aller Augen als eine Abfolge technologischer Revolutionen stattfinde und dem Menschen jedesmal mit einer kurzfristigen Erleichterung des Alltags den Schneid abkaufe.

Wette

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Wette, sagte Annika, sie habe mit Wette gesprochen, er sei daran interessiert, Doppelkopf zu spielen, was nicht als Absage zu verstehen sei, aber sie möge gern auch Hüttmann fragen.

Schön, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne, die Farb auf der Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glattstrich.

Wette, sagte Farb, hatte Wette nicht Psoriasis, eine Zeitlang sogar im Gesicht, die Haut sei ein sensibles Organ.

So etwas grenze dich aus aus dem Alltag, sagte Tilman, du wirst nicht länger als zugehörig empfunden, doch allem Anschein nach sei das besser geworden.

Kulturen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturen

Die Erschaffung der Welt sei beileibe kein einmaliges Ereignis, sie bedürfe der ständigen Wiederholung und Erneuerung. Tilman schmunzelte.

Ist das so?, fragte Annika: Wer sagt das? Deine Ägypter?

Immer auf der Höhe der Zeit, spottete Farb.

Wir versetzen uns in die dreieinhalbtausendjährige Kultur des Alten Ägypten, das sei keineswegs ein abwegiges Gedankenspiel, sagte Tilman, angesichts einer Gegenwart, die daran arbeite, die Abläufe des Lebens und ihre Grundlagen zu zerstören.

Sut mahnt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sut mahnt

Leichen zu zergliedern, ein ungewöhnliches Thema, ob es mit Organspenden zu tun habe, das habe den Menschen immer schon beschäftigt, weshalb, man möchte darüber gar nicht nachdenken, sagte Sut, die Tatsachen seien abgründig, bewegten sich in erschreckend anderen Welten, stellt euch vor, man versetzte uns in ein anatomisches Theater, wie es einst üblich gewesen sei, ein Aufreger, Anatomie als ein Erkenntnisvorgang, die Zergliederung einer menschlichen Leiche als schauriges Event inszeniert, wohlige Gänsehaut, andere Zeiten, andere Sitten, ein kollektives Todesspektakel.

Sanctus konnte keine Sekunde länger zuhören.

Sogar Crockeye wandte sich ab.

Ekelhaft, sagte LaBelle.

Laß sie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Laß sie

Wie das ausgehen werde, frage ich mich.

Wette lachte. Das, sagte er, sei absehbar.

Vermutlich katastrophal, sagte Farb.

Absehbar katastrophal, sagte Wette, und nein, wir könnten nichts tun, die Entwicklung sei zu offensichtlich, sie sei unumkehrbar, das liege auf der Hand.

Eine stramm kompromißlose, radikal rechtsgerichtete Politik, sagte Tilman, fortgesetzter Klassenkampf von oben, Mammon regiert.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.