Sprechender Affe in der Schwefelquelle

Kurzprosa | Haruki Murakami: Erste Person Singular

Seit vielen Jahren wird der inzwischen 72-jährige japanische Erfolgsautor Haruki Murakami als heißer Nobelpreisaspirant gehandelt. Im letzten Herbst war sein opulentes Erzählepos Die Chroniken des Aufziehvogels in einer neuen Übersetzung erschienen. Hierzulande erfreut er sich seit dem Sommer 2000 enorm großer Popularität. Damals war es im »Literarischen Quartett« des ZDF über Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zum öffentlichen Zerwürfnis zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler gekommen. Fortan waren die in deutscher Übersetzung erschienenen (und neu aufgelegten) Werke von Murakami echte Verkaufsschlager: Wilde Schafsjagd, Hard-Boiled Wonderland, Tanz mit dem Schafsmann und 1Q84. Von PETER MOHR

Nun legt er uns acht (wie es der Buchtitel schon suggeriert) Erzählungen vor, durch die uns höchst unterschiedliche angelegte Ich-Erzähler führen. Melancholie, Liebe, Tod und ganz viel Musik sind die thematischen Eckpfeiler der Texte, denen Murakami eine stattliche Portion Rätselhaftigkeit implantiert hat. Mal ein junger Mann mit literarischen Ambitionen, mal ein bereits arrivierter Autor führen uns durch die mit einem novellistischen Touch versehenen Erzählungen, in denen der Autor einige Spuren aus seiner eigenen Vita verewigt hat.

»Ich muss dich mal was fragen«, sagte sie, als wir nackt unter dem Futon lagen. »Wahrscheinlich rufe ich beim Orgasmus den Namen eines anderen Mannes. Macht dir das was aus?«, heißt es in der den Band einleitenden Erzählung »Auf einem Kissen aus Stein«.
Ein junger Mann erhält nach dieser unkonventionellen Liebesnacht mit einer Kellnerin einen Band mit Tankas (japanische Kurzgedichte) geschickt, verfasst von eben jener Kellnerin. Darin ist viel vom Tod und von Enthauptung die Rede. »Enthaupten oder/enthauptet werden,/lege deinen Nacken/auf ein Kissen aus Stein,/und hallo!, du wirst zu Staub.«

An anderer Stelle sitzt ein junger Mann im Bus auf dem Weg zum Konzert – völlig nervös, weil es dort ein Rendezvous geben soll, ein anderer Mann begegnet auf einer Reise durch die japanische Provinz in  einer heißen Schwefelquelle einem sprechenden Affen.

Im eindrucksvollsten Text »Carnaval« hört ein Mann gemeinsam mit einer als »hässlich« bezeichneten Frau 42 Schallplatten verschiedener Interpreten. Sie entpuppt sich als  große Musikexpertin, und die Beiden vertiefen sich gedanklich und äußerst kenntnisreich in Schumanns Klavierzyklus »Carnaval«. Später sieht der Ich-Erzähler im TV, wie diese Frau (eine gesuchte Betrügerin) in Handschellen abgeführt wird.

Auf der vorletzten Seite des Bandes heißt es – gerade so, als sollte das Lektüreerlebnis resümiert werden: »Eine Welle von Verwirrung und Verlegenheit hatte alle anderen Gefühle oder zumindest die Logik zeitweise verdrängt.«

Nein, das ist keine ganz große Literatur, aber es sind »Storys«, die extrem gut gemacht und der »handwerklichen« Perfektion verdammt nahe sind. Süffig zu lesen, ein wenig rätselhaft, und man fühlt sich auch noch auf beachtlichem Niveau gut unterhalten.

| PETER MOHR

Titelangaben
Haruki Murakami: Erste Person Singular
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Köln: Dumont 2021
217 Seiten. 22.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fröhlich durch den Diskursdschungel

Nächster Artikel

Täglich ins Schreibbüro

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Gefühl

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gefühl

Das Rauschen des Ozeans klang wie von ferne zur Ojo de Liebre herüber.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Keine Ahnung, sagte Gramner, der Mensch der Moderne habe keine Ahnung, null, er stehe sprachlos vor einem Abgrund, man finde kaum eine andere Epoche, während der der Mensch dermaßen blind gewesen sei.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte, löste sich in die Dunkelheit auf und schlug einen Salto.

Gohlis

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gohlis

Wir beneiden sie nicht, die drei auf ihrer Terrasse in Sichtweite des Gohliser Schlößchens.

Nein, Gramner, wir beneiden sie nicht, keineswegs.

Am Ende der Welt, sie müssen sich fühlen, als erlebten sie das Ende der Welt.

Zurecht, Gramner, zurecht, ihre Welt geht dem Ende entgegen.

Es wird ebenso unsere Welt gewesen sein.

Träume

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Träume

Das Löschwasser sei ihnen ausgegangen, sagte Farb.

Beispiellos, sagte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Grenzwertig sei, sagte Wette, was sich dort abspiele, man müsse das verstehen.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Ein Menetekel, sagte Farb.

Demokratie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Demokratie

Entbehrlich, er ist entbehrlich.

Farb lachte. Verzichtbar.

Die Welt stünde ohne ihn keineswegs schlechter da.

Ohnehin ergeht es ihm miserabel, da greifen auch all seine Versuche nicht, gute Laune zu stiften, ehrlich, er ist überflüssig, und außerdem – was trage er bei zum Wohlbefinden des Planeten, nichts, wer brauche ihn, niemand, er nehme sich vom Kuchen und gebe nichts zurück.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Durchaus sei denkbar, sagte Farb, daß sein Abgang eine befreiende Wirkung hätte, der Planet würde von Zwängen und Knebelungen erlöst, der Tag zum Beispiel dürfte Persönlichkeit entfalten, als ein lebendiges Wesen wahrgenommen werden wie andere auch, er verströmte gute Stimmung unter einem blauen Himmel, er wäre melancholisch unter dunklen Wolken und Regenschauern, neigte zum Zornausbruch unter Blitz und Hagel.

Desillusioniert, nicht verbittert

Kurzprosa | Helga Schütz: Die Kirschendiebin Helga Schütz, die Anfang Oktober ihren 80. Geburtstag feierte, hat sich seit Jahr und Tag als poetische Dokumentaristin des ostdeutschen Alltags einen Namen gemacht. Äußerst subtil hat sie in ihren Romanen (angefangen mit ›In Annas Namen‹, 1986) darüber hinaus ihre eigene Biografie eingeflochten. An dieser bewährten Konzeption hat die in Niederschlesien geborene und später in der DDR lebende Autorin auch in ihrem aktuellen Erzählwerk ›Die Kirschendiebin‹ festgehalten. Von PETER MOHR