Ein merkwürdiges Paar ist miteinander unterwegs: ein Wolf, der eigentlich der totale Einzelgänger ist, gemeinsam mit einem Kaninchen, dem es gesundheitlich gar nicht gut geht. Wie es dazu kam und was sich daraus entwickelt: ANDREA WANNER war gespannt.
Die Begegnung zwischen Wolf und Kaninchen ist rein zufällig. Beide sind Patienten desselben improvisierten und etwas fragwürdigen Behandlungszentrums für Waldtiere. Beide sind aber nicht in der offenen Sprechstunde, sondern gehören zu den sogenannten Stammgästen: Der Fuchs wegen einer Schussverletzung, die offensichtlich nicht seine erste ist – und auch nicht seine letzte bleiben wird.
Der Nager bekommt seine erste Chemo. Versorgt werden sie von Erdmute, einem halbblinden Maulwurf, der bei allen Rollvenen diagnostiziert, eine Herausforderung für ungeübte Blutabnehmer, zu denen Erdmute ganz offensichtlich gehört. Während das Kaninchen die unangenehme Prozedur schicksalsergeben über sich ergehen lässt, ist sie allerdings bei seinem nur doch einen Vorhang getrennten Nachbarn an den Falschen geraten. Der Maulwurf fliegt im hohen Bogen durch die Luft und das Raubtier flickt sich kurzerhand selbst zusammen. Danach hat er Hunger, ist unzufrieden mit einem Vanilletörtchen und fände Kaninchen gar nicht schlecht. Nur, dass das Tier so unappetitlich riecht, dass er sofort davon Abstand nimmt. »Was zum Teufel pumpen die da in dich rein?«, will er enttäuscht wissen.
Und das könnte – auf Seite zehn – auch schon das Ende des Aufeinandertreffens sein, wären da nicht plötzlich Jäger im Anmarsch, Kugeln, die den fliehenden Tieren um die Ohren pfeifen, und eine, die vom Infusionsständer abprallt, statt den Fuchs zu treffen. »Hast du da gerade die Kugel abgewehrt?«, will er fassungslos wissen, denn das hat Konsequenzen. Einem Wolf das Leben zu retten, verpflichtet den aufgrund des Wolfskodex im Gegenzug das Leben des Retters zu retten. Ob er will oder nicht.
Das ist der Anfang der Grafic Novel von Josephine Mark, die sich zum fulminanten Roadmovie entwickelt. Rasante Bildfolgen – die Flucht vor Jäger und Hund, deren Auto, der Wolf kurzerhand klaut; eine Strecke im Motorrad mit Beiwagen, auch entwendet, aber mit einer genialen Pointe; abenteuerliche Strecken zu Fuß in unwegsamem Gelände – wechseln mit Panelsequenzen, in denen das Tempo etwas gedrosselt ist: schließlich ist Kaninchen Chemopatient und die Therapie schwächt ihn zusehends.
Der arme Tropf – wie wunderbar das Wortspiel des Titels: ein Tropf ist ja zu einen ein medizinisches Gerät zur Verabreichung einer Infusion, zum anderen eine bedauernswerte Person – leidet. Das Fell geht ihm aus, er friert, die Kondition lässt nach, er hat Hunger… Irgendwann schreit er ganz verzweifelt ihm Beiwagen: »… UND VIELLEICHT STERBE ICH BALD AN DIESER BESCHISSENEN KRANKHEIT!« Und der Wolf? Bleibt entgegen seiner sonstigen Art gar nicht cool, sondern brüllt zurück: »Na und? Vielleicht sterben wir beide heute noch bei einem Motoradunfall.«
Will man mit so einem unterwegs sein? Der sich das ja eigentlich auch gar nicht ausgesucht hat, sondern bloß wegen eines blöden Ehrenkodex so handeln muss. So lange, bis der Patient das ganze Paclitaxel, Cyclophosphamid, Doxorubicin und Herceptin intus hat. Fünf lange Monate. Der Wolf kümmert sich um die regelmäßigen Infusionen, sorgt für Fluchtfahrzeuge und Nachtlager, ist überhaupt sehr findig. Und irgendwie auch durchaus liebevoll, als er beispielsweise dem haarlosen Kaninchen ein Kleidchen fabriziert.
Es sind dramatische Szenen, die sich in den detailreichen Bildchen abspielen. Und wie es den beiden geht, sieht man auf den ersten Blick an der grandios gestalteten Mimik. Dabei gibt es durchaus auch entspannte Momente wie beispielsweise im ersten Fluchtfahrzeug. Wolf startet den Motor und beginnt zu singen:
Head out on the highway
Looking for adventure
In whatever comes our way«
Er schaut den Kleinen fassungslos an, als der stumm neben ihm sitzt: »Hallo! ›Born to be wild!‹ Was lernt ihr Pfeifen eigentlich in eurer Nagerschule?«. Das Kaninchen erzählt ihm von seinem Alltag, der Wolf geht die Medikamentenliste durch, angelt für beide ein Knoppers aus dem Handschuhfach des Jägers, singt weiter:
Take the world in a love embrace«
Und urplötzlich fällt das Kaninchen ein:
And explode into space«
Und gemeinsam schmettern sie dann die Easy-Rider-Hymne:
We were born, born to be wild«
Das ungleiche Gespann irritiert und fasziniert. Wunderbar, wie die beiden sich nach und nach annähern. Wie der Wolf ein bisschen von seiner Lonely-Wolf-Nummer abrückt, mit den beiden Wölfen Karl und Günther so richtig einen draufmacht. Der Winter kommt, sie sind noch nicht am Ende ihrer Reise und es wartet noch einiges auf sie …
Josephine Mark hat die Story fest im Griff und erzählt mit leichter Hand und wie nebenbei von Krankheit und Freundschaft, von Möglichkeiten und Wegen, von Entscheidungen, die Folgen haben: Einfach nur genial! Und wie philosophiert der Wolf: »Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht innerer Einstellung.« Dann gehen wir anlässlich eines makabren Schlussbildes, auf dem das Häschen wie Rotkäppchen aussieht – was neben einem Wolf immer ein bisschen merkwürdig ist – doch einfach von einem Happy End aus.
Titelangaben
Josephine Mark: Trip mit Tropf
Hamburg: Kibitz 2022
192 Seiten 20 Euro
Graphic Novel ab 12 Jahren
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