/

Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal

Menschen | Zum 70. Geburtstag des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk

»Es geht in diesem Prozess gar nicht um meinen Roman, sondern um Ideologie«, hatte Nobelpreisträger Orhan Pamuk Ende des letzten Jahres in einem Interview erklärt. Mehrmals hatte ihn die Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt, nachdem die große türkische Tageszeitung ›Hürriyet‹ eine regelrechte Hetzjagd gegen den Schriftsteller inszeniert hatte. »Was bezweckt Orhan Pamuk damit, dass er Atatürk verhöhnt? Will er einen Aufruhr anzetteln? Will er dem Ausland eine Botschaft senden?«, lauteten die rein rhetorischen Fragen des Chefredakteurs Ahmet Hakan nach Erscheinen von Pamuks letztem Roman »Die Nächte der Pest«, der sich mehr schlecht als recht zwischen dichterischer Fiktion und politischer Allegorie hin- und herquälte. Von PETER MOHR

Ein Porträtfoto des Schriftstellers Orhan Pamuk»Er hat neue Symbole für den Zusammenprall und die Vernetzung von Kulturen gefunden,« hieß es 2006 in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, das Orhan Pamuk als erstem türkischen Schriftsteller in der langen Geschichte des Nobelpreises die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zusprach.

Was für Günter Grass Danzig, für Heinrich Böll Köln und für Nagib Machfus Kairo war, ist für Pamuk seine Geburtsstadt Istanbul – das Zentrum des eigenen literarischen Werkes, in dem sich persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Veränderungen gleichermaßen widerspiegeln. »Es gibt wohl kaum einen Autor in der Weltliteratur, der so faszinierende Stadtschilderungen schreiben kann wie Pamuk«, hatte Horace Engdahl, der damalige Sekretär der Nobelakademie, erklärt.

»Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem viele Romane gelesen wurden. Mein Vater hatte eine umfangreiche Bibliothek und erzählte von den großen Schriftstellern wie Thomas Mann, Kafka, Dostojewski oder Tolstoi. Schon als Kind waren für mich all diese Romane und Autoren eins mit dem Begriff Europa«, erklärte Pamuk in einem Interview.
Doch trotz dieser frühen Affinität zur großen europäischen Literatur hat er in seinen eigenen Werken stets den Spagat zwischen Tradition und Moderne, zwischen Orient und Okzident versucht. Im 2001 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman ›Rot ist mein Name‹ – der zwar im 16. Jahrhundert angesiedelt ist, aber in seiner Bedeutung tief in die Gegenwart reicht – beschreibt er auf eindrucksvolle Weise Istanbul als Schwellenstadt zwischen den Kulturen, als urbanen Moloch, der polyphonen gesellschaftlichen Strömungen ausgesetzt ist. Diese Vielstimmigkeit unterstrich er durch ein gutes Dutzend in der Handlung auftretender Erzähler.

Mit einem zeitgenössischen Thema beschäftigte sich Pamuks großer Roman ›Schnee‹ (dt. 2005), der von der New York Times 2004 als bestes ausländisches Buch ausgezeichnet wurde. Darin reist ein Mann in eine Provinzstadt, um eine merkwürdige Serie von Selbstmorden junger Mädchen zu untersuchen. Sie sollen sich umgebracht haben, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Dann kommt es zu einem Putsch. Private Schicksale mischen sich mit kollektiven Tragödien, Religion und Politik lassen im Zusammenspiel eine für die Individuen prekäre Situation entstehen.

Trotz seiner großen internationalen Erfolge (seine Werke sind in 35 Sprachen übersetzt worden) war Orhan Pamuk in seiner Heimat stets umstritten. Schon 2005 wurde der Autor wegen »Herabwürdigung des Türkentums« vor Gericht gestellt.

Orhan Pamuk, der am 7. Juni 1952 als Sohn einer großbürgerlichen Familie in Istanbul geboren wurde und als Kind Maler werden wollte, hatte nach einem abgebrochenen Architekturstudium einen Universitätsabschluss als Journalist erworben. Im Alter von 23 Jahren entschied er sich, ausschließlich als Schriftsteller zu arbeiten. Er zog sich vor der Veröffentlichung seines literarischen Erstlings ›Cevdet Bey ve Ogullar‹ für viele Jahre zurück in das Sommerhaus der Familie auf einer Insel im Mamarameer.

Bis auf einen dreiährigen USA-Aufenthalt (1985-1988) an der Columbia University in New York, wo seine Frau promovierte und er selbst an seinem Buch ›Kara Kitap‹ (dt. Das schwarze Buch) arbeitete, hat Pamuk Istanbul nie für längere Zeit verlassen. »Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, weil sie mich zu dem gemacht hat, der ich bin«, so Pamuks Liebeserklärung an seine Heimatstadt, in der er mit seiner Frau und seiner Tochter lebt und die auch in seinen Romanen ›Diese Fremdheit in mir‹ (2016) und die ›Die rothaarige Frau« (alle in dt. Übersetzung im Carl Hanser Verlag erschienen) eine zentrale Rolle spielt.

Und doch schwingt im Hinterkopf beim Nobelpreisträger stets auch eine Mischung aus Angst und Skepsis mit: »Mich schützt wahrscheinlich auch meine Bekanntheit. So kann ich Sachen sagen, die sich andere vielleicht nicht zu sagen trauen.«

| PETER MOHR
| Foto: Алексей Балакин / Alexey Balakin, Pamuk, CC BY 3.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ungleiche Schicksals-Gemeinschaft

Nächster Artikel

Ein Domizil für die Ewigkeit

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Schreiben mit dem Weitwinkel

Menschen | Zum Tod der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer ›Eigentlich ist man als Schriftsteller immer froh, wenn sich Wahrnehmungen verändern. Man darf sich bloß nicht in einen blöden Sog bringen lassen‹, hatte Brigitte Kronauer im letzten Jahr in einem FAZ-Interview auf die Frage nach möglichen Problemen mit dem Älterwerden erklärt. Von PETER MOHR

Schlagzeilenträchtiges Leben

Menschen | 100 Geburtstag von Norman Mailer

»So früh berühmt zu werden, war das Schlimmste, was einem jungen Autor passieren konnte«, resümierte Norman Mailer (durchaus zutreffend) im Rückblick. Gerade 25 Jahre alt war er, als die Veröffentlichung seines weltberühmt gewordenen Debütromans ›Die Nackten und die Toten‹ (1948) ein ungeheures öffentliches Interesse an seiner Person auslöste. Nach dem Harvard-Studium, einem kurzen Abstecher an die Sorbonne und zwei Jahren Militärdienst im Südpazifik (aus diesen Erfahrungen entstand sein überaus erfolgreicher und mehrfach verfilmter Erstling) stand Norman Mailer wie kaum ein anderer US-Autor dieser Zeit im Rampenlicht der Öffentlichkeit. »Ich wusste, dass es eine Sache gibt, die ich wirklich will - und das war zu schreiben«, hatte Mailer einmal sein Credo beschrieben. Von PETER MOHR

Zeit der Fiktion ist vorbei

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers Rolf Schneider am 17. April* »Ich betrachte die deutsche Wiedervereinigung und die heutigen Zustände in der Bundesrepublik alles in allem doch als einen Glücksfall«, hatte der Schriftsteller Rolf Schneider vor vier Jahren in einem Interview mit dem ›Deutschlandradio Kultur‹ erklärt. Zeitlebens ist er immer etwas gegen Strom geschwommen. Von PETER MOHR

Weltoffenheit als musikalisches Verständnis

Musik | Interview | Kroke: Traveller Sie begannen das Musizieren als Freunde – und sind es auch nach 25 Jahren und weltweitem Erfolg geblieben. Tomasz Lato, Jerzy Bawoł und Tomasz Kukurba, kurz: Kroke. Aktuell sind sie auf großer Jubiläumstour in Europa unterwegs. Ab dem 18. November steht das Trio auch in Deutschland auf der Bühne. Grund genug für HANNES und FLORIAN STURM, sich mit den »Weltmusikern« zu treffen.

Zwischen Exotik und Realismus

Menschen | Zum Tod von Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa

»Ich glaube, die beste Art, die Übel unserer Zeit zu bekämpfen, besteht darin, Bücher zu verbreiten und die Menschen von einer besseren Welt träumen zu lassen, von einer anderen Welt, in der es weniger Gründe gibt, um unzufrieden zu sein«, hatte Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa im September 2020 in Berlin erklärt.

Im letzten Jahr war in deutscher Übersetzung noch der Roman ›Die große Versuchung‹ erschienen. Liebe und Kunst, Leidenschaft, die Politik und Peru: Vargas Llosa hatte noch einmal seine großen Sujets zusammengeführt – nicht mehr mit der bekannten und gerühmten bunten, farbenprächtigen Sprache, sondern augenscheinlich geschrieben mit einer Träne im Augenwinkel. Von PETER MOHR