Menschen | Joachim Gauck: Freiheit
Der Katzenjammer ist vorprogrammiert. Wo so viel Vorschusslorbeeren verteilt werden und so viel Jubel auf Verdacht ertönt, kann es nur Enttäuschungen geben. Es ist ähnlich wie bei der Bestellung des künftigen Intendanten für das Stuttgarter Schauspiel, Armin Petras. Berauscht von dem Coup, der einen Theaterleiter aus der Hauptstadt weglocken konnte, verspricht man sich am Neckar ein Goldenes Zeitalter. Von THOMAS ROTHSCHILD
Wenn man sich in Berlin ein wenig umhörte, wenn man Petras als einen radikalen Befürworter von Romanadaptionen wahrgenommen hätte, der mit Drama wenig im Sinn hat, wäre wohl eher Skepsis angebracht. Die kann dann immer noch durch freudige Überraschungen aufgehoben werden. Für angenehme Überraschungen lässt das allgemeine, parteiübergreifende Vorauslob für Joachim Gauck keinen Platz. Man wird ihm auf die Schliche kommen. Der Katzenjammer ist vorprogrammiert.
Es besagt etwas über den Zustand der SPD und der Grünen, dass ihnen als Gegenkandidat zu Christian Wulff nur einer einfiel, der »seine sehr guten Beziehungen zu Union und FDP betont und sich sogar verwundert zeigt, dass er von Rot-Grün aufgestellt worden sei«. Etwas mehr Mut, Fantasie und Vorwärtsstrategie hätte man sich, wo man ohnedies auf verlorenem Posten stand, schon erhoffen dürfen. Wenn Sozialdemokraten und Grüne einander nicht ein Bein stellen und der CDU zur Macht verhelfen, profilieren sie sich zumindest als bessere CDU. Aber man darf sich auch fragen, wofür eigentlich ein Mann steht, den Sozialdemokraten und Grüne nominieren und keine zwei Jahr später die FDP und schließlich auch die CDU als einen der Ihren betrachten können. Haben diese Parteien die gleichen Werte, die gleichen Ziele? Oder ist der Kandidat so wandlungsfähig, so unprofiliert, dass er allen zu genügen vermag wie Nestroys Titus Feuerfuchs, der von sich sagt: »Ich qualifizier mich für alles«? Bei Wulff wusste man wenigstens, woran man war. Er brauchte »seine sehr guten Beziehungen zur Union« nicht erst zu »betonen«. Übrigens lehrt die Geschichte, dass Bundespräsidenten, in ihrem Drang, allen zu gefallen, ihre politische Herkunft oft vergessen lassen. War der Sozialdemokrat Rau wirklich so viel progressiver als der Christdemokrat Weizsäcker?
Wofür also steht der Bundespräsident in spe? Inzwischen ahnt es der letzte Stammtischbesucher im entlegensten Dorf. Seine Fans wiegeln ab: man dürfe nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, der gute Mann werde böswillig fehlinterpretiert, er werde gewiss als Präsident Korrekturen hinzufügen, und schließlich müsse man seine Ansichten ja nicht teilen. Das ist schon richtig, aber zur Kenntnis nehmen sollte man sie schon. Joachim Gauck sagte im Oktober des vergangenen Jahres bei einer Zeit-Matinee in den Hamburger Kammerspielen, dass er die Antikapitalismusdebatte für »unsäglich albern« halte: »Der Pastor, Politiker und Publizist betonte bei der Veranstaltung der Wochenzeitung Die Zeit, dass der Traum von einer Welt, in der man sich der Bindung von Märkten entledigen könne, eine romantische Vorstellung sei. Zu glauben, dass wenn man das Kapital besiege, die Entfremdung vorbei und dann alles schön sei, sei ein Irrtum.«
Diese Meinung kann man vertreten. Ist es die Position von Sozialdemokraten und Grünen? Und wenn der Präsident der Akademie der Künste in Berlin Klaus Staeck sich vor allem ein stärkeres Engagement für den sozialen Zusammenhalt und die Ärmeren in der Gesellschaft erhofft und hinzufügt: »Einen weiteren Anwalt des Neoliberalismus brauchen wir nicht in diesem Amt« – ist die zitierte Äußerung Gaucks ein Indikator dafür, dass er dem Neoliberalismus etwas entgegensetzen will?
Selbst der bisher nicht als revolutionär registrierte Stern kommentierte: »Wie wenig dagegen Joachim Gauck gerade in diesen Zeiten für das Amt des Bundespräsidenten taugt, offenbarte sich am vergangenen Wochenende, als er einen Tag nach den Aktionen der ›Occupy‹-Bewegung in der Hamburger Zeit-Matinee saß. Wer nämlich wie Gauck den weltweiten Protest gegen ein ungebändigtes Finanzsystem und den immer lauter werdenden Ruf nach sozialer Gerechtigkeit als romantische Spinnerei abtut und für ›unsäglich albern‹ hält, der hat sich von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen ebenso weit entfernt wie jene Politiker und Banker oder Broker, denen nun zunehmend und weltweit das Vertrauen entzogen wird.«
Luther wie Gauck predigen die Subordination
Bei Beckmann in der ARD hat Gauck, noch vor der Volksabstimmung in Baden-Württemberg, die Politik aufgefordert, das Bahnprojekt Stuttgart 21 trotz der Bürgerproteste zu realisieren. In jahrelangen Prozessen seien Entscheidungen zu dem Milliardenvorhaben gefallen, die bekannt gewesen seien. »Und diese Entscheidungen jetzt nicht zu vollziehen, das wäre ja fast eine Straftat. Die Politiker, die jetzt sagen, ich baue einfach nicht weiter, die dürfen das gar nicht tun, wenn sie sich selbst ernst nehmen.«
Man kann über Stuttgart 21 und auch über die Vorzüge der direkten Demokratie unterschiedlicher Meinung sein. Man kann Entscheidungen von Parlamenten gegenüber Volksabstimmungen bevorzugen. Aber eins kann man nicht: sich als Repräsentant der Bürgerbewegung in der DDR selig sprechen lassen und zugleich die Beachtung von Bürgerprotesten als »Straftat« bezeichnen. Hier geht es nicht um irgendwelche Beiläufigkeiten. Hier geht es um grundsätzliche politische Haltungen, konkret: um das Verständnis von Demokratie. Wer Bürgerproteste nur für legitim hält, wenn er mit deren Forderungen übereinstimmt, sie aber kriminalisiert, wenn sie ihm nicht passen, hat, mit Verlaub, seine Glaubwürdigkeit als Demokrat verspielt. Kein kleiner Vorwurf gegenüber einem Mann, der Bundespräsident werden will.
Mit seiner Äußerung zu den Bürgerprotesten stellt sich der ehemalige Pastor in eine Tradition, die Tradition Martin Luthers, der bekanntlich dazu aufforderte, die aufständischen Bauern zu erschlagen. 1534 schrieb Martin Luther an Hans Kohlhase, der das Modell für Kleists Michael Kohlhaas abgab: »Und ist ja wahr, dass Euch Euer Schaden und infamia billig wehe tun soll, und schuldig seid, dieselbe zu retten und erhalten, aber nicht mit Sunden oder Unrecht. Quod iustum est, iuste persequeris, sagt Moses; Unrecht wird durch ander Unrecht nicht zurecht bracht. Nu ist Selbsrichter sein und Selbsrichten gewisslich unrecht, und Gottes Zorn läßt es nicht ungestraft. Was Ihr mit Recht ausführen moget, da tut ihr wohl; könnt Ihr das Recht nicht erlangen, so ist kein ander Rat da, denn Unrecht leiden. Und Gott, der Euch also lässt Unrecht leiden, hat wohl Ursach zu Euch.« Luther wie Gauck predigen die Subordination und gegebenenfalls das Ertragen von Unrecht, nicht das Recht auf Widerstand, wo die Herrschenden versagen.
Joachim Gauck ist eine Mogelpackung, seine Autorität ist erschwindelt. Thomas Oberender, der neue Intendant der Berliner Festspiele, preist Gauck: »Er hat eine seelsorgerliche Ausstrahlung, also etwas sehr Verbindliches und Zugewandtes.« Wollen wir wirklich einen Bundespräsidenten mit einer »seelsorgerlichen Ausstrahlung«? Und wem, wenn wir Oberenders Wortwahl akzeptieren, wäre Gaucks seelsorgerliche Ausstrahlung zugewandt? Gauck ist in der Tat ein Moralist. Das wäre nicht weiter schlimm. Ein bisschen moralische Ermunterung könnte unsere Politik schon gebrauchen. Schlimm ist, dass Gauck seinen Moralismus wie eine Monstranz vor sich her trägt und dann als braver Untertan den Staat gegen den Bürger ausspielt. Das grenzt an Heuchelei. Vor der Seelsorge dieses Mannes kann man sich nur fürchten. Ein bisschen merkwürdig ist es ja schon, dass in Deutschland an der moralischen Kompetenz der Kirchen und ihrer (ehemaligen) Repräsentanten, was immer auch geschehen mag, nicht gezweifelt wird, wo die Vertreter anderer Ideologien bei geringeren Vergehen längst als unglaubwürdig gälten. Weder die Inquisition, noch Hexenverbrennungen, weder Luthers Antisemitismus, noch das Konkordat des Vatikans mit Hitler, weder von Priestern betriebene Konzentrationslager in Kroatien, noch die Fluchthilfe für Naziverbrecher nach 1945, weder die Belieferung der lateinamerikanischen Todesschwadronen mit Waffen durch Opus Dei, noch der Kindesmissbrauch durch Geistliche mindern die Anerkennung der Kirche als moralische Instanz. Selbst ein grüner Ministerpräsident punktet, wenn er sich als tief religiös outet. Und den Sozialdemokraten, die sich in der Weimarer Republik noch als Atheisten verstanden, fiel, als sie die Chance hatten, den Bundespräsidenten zu bestimmen, nur der kirchentreue »Bruder Johannes« Rau ein. Hätte eine Kandidatin, ein Kandidat in unserem angeblich säkularen Staat eine Chance, wenn sie oder er sich auf die Aufklärung, gar auf Agnostizismus und Laizismus beriefe? Da ist uns die Türkei um einiges voraus. Deutschland ist kein klerikaler Staat wie der Iran oder Israel. Aber es ist, subkutan, nicht weit davon entfernt. Ein Bundespräsident Gauck wird daran gewiss nichts ändern. Der Katzenjammer ist vorprogrammiert, und wir sollten, wenn er eintritt, nicht vergessen, wem wir diese Wahl zu verdanken haben.
Dem Katzenjammer vorbeugen
Wer rechtzeitig gegen den Katzenjammer vorbeugen will, kann das jetzt auch anhand eines schmalen, kleinen Büchleins mit reduziertem Satzspiegel, aber eleganter Aufmachung, dem Joachim Gauck den schlichten Titel Freiheit gab. Der Verfasser nennt es Ein Plädoyer, aber durch den Lauf der Dinge ist es praktisch zu einem Manifest oder auch zu einem Bewerbungsschreiben des ins Haus stehenden Bundespräsidenten geworden. Später jedenfalls wird sich niemand damit ausreden können, man habe nicht gewusst, wes Geistes Kind dieser neue Luther ist.
Schon der erste Satz des »Plädoyers« ist ambivalent: »Wer heute danach fragt, was unsere Gesellschaft ausmacht, was sie prägt und ihr Gestalt verleiht, wird auf diese drei Wesensmerkmale stoßen: Freiheit, Verantwortung und Toleranz.« Ist das eine Diagnose oder ein Postulat? Meint Gauck, dass unsere Gesellschaft (die deutsche? die europäische? die globale?) so beschaffen sei, oder dass sie so beschaffen sein sollte? Beschränken wir uns auf deutsche Verhältnisse (schon für Ungarn, zum Beispiel, müsste die Antwort aktuell anders ausfallen): Wenn Gauck meint, sie sei tatsächlich von Freiheit, Verantwortung und Toleranz geprägt, dann besagt das etwas über sein Verständnis dieser Begriffe. Dann wäre die zunehmende Verarmung in einem zunehmenden Teil der Bevölkerung mit Verantwortung, dann wäre die bei Umfragen in erschreckendem Ausmaß erkennbar werdende Fremdenfeindlichkeit mit Toleranz vereinbar. Wenn er aber meint, dass es so sein sollte – warum spart er zwei Forderungen der Französischen Revolution, Gleichheit und Brüderlichkeit, als unserer Gesellschaft Gestalt verleihende Wesensmerkmale aus? Die Priorität der Freiheit gegenüber diesen beiden Kategorien ist ein Topos des Konservatismus und der Liberalismus. Sie meint, unausgesprochen, das Wirtschaftssystem und ist, auch wenn sie die bürgerlichen Freiheiten im Blick hat, antiegalitär. Wer Freiheit anmahnt und Gleichheit unterschlägt, setzt sich dem begründeten Verdacht aus, dass er es zumindest billigend hinnimmt, wenn nicht alle Bürger in gleichem Maße von der Freiheit Gebrauch machen können.Gauck beginnt seine Ausführungen mit einem autobiographischen Exkurs. Er spricht von der Erfahrung, die ihn (wenn nicht »unsere Gesellschaft«) geprägt hat, die Bürgerbewegung, die 1989 den Zusammenbruch der DDR befördert hat und für die, in der Tat, Freiheit die zentrale Kategorie war. In dem Slogan »Wir sind das Volk« drückte sich, zunächst jedenfalls, ein zuvor kaum erahntes Selbstbewusstsein aus, das Gauck zu Recht bewundert. Dass ihm ein ähnliches Phänomen bei den Gegnern von Atomkraftwerken oder von Raketen in Mutlangen entgangen ist, kann man ihm nachsehen, nicht jedoch, dass er just dieses Selbstbewusstsein der Basis denunziert, wenn es sich, lange nach dem Ende der DDR, gegen Beschlüsse der baden-württembergischen Regierung wendet. Die »Anarchie von Revolte, Aufstand und Aufruhr«, den Versuch, »eine wunderbare Ungebundenheit ins Leben zu rufen«, gesteht Gauck nach geteiltem Maß zu. Die einen dürfen, die anderen nicht. Gleichheit, wie gesagt, gehört nicht zu Gaucks Repertoire.
Joachim Gauck zitiert das Lied Die Gedanken sind frei und verkennt wie viele vor ihm dessen satirischen Charakter. Deshalb verschweigt er die folgenden Verse:
Ich denke was ich will
Und was mich beglücket,
Doch alles in der Still
Und wie es sich schicket.
Sie sind ja nichts weniger als ein Bekenntnis zum Duckmäusertum, das exakte Gegenteil einer Protestbewegung, die lautstark und mit hohem Risiko ausspricht, was sie denkt, und Freiheit nicht nur für Gedanken verlangt.
Eine Bankrotterklärung
Wenn Gauck in einem Rückblick auf den Kalten Krieg gegen die militärische Abrüstung im Westen polemisiert und erklärt, in konkreten Situationen könne »Verzicht auf Gewalt auch bedeuten, der Gewalt von Unterdrückern und Aggressoren den Weg zu ebnen oder ihren Terror zu dulden«, dann wird man nicht umhin kommen, die Bedeutung dieser Ansicht für die Gegenwart einzuschätzen. Ein Prediger der Gewaltlosigkeit ist dieser Theologe jedenfalls nicht. Das sollte man angesichts möglicher künftiger Militäreinsätze wissen.
Mehrmals zitiert Joachim Gauck den kürzlich verstorbenen Václav Havel. Havel ist einer der wenigen echten Intellektuellen, die es zum Amt des Präsidenten gebracht haben, und er galt, zu Recht, nicht nur auf Grund seiner Biographie, als moralische Autorität. Er ist jedoch nicht der einzige Dichter, der in der Politik reüssiert hat. Vielleicht sollte sich Gauck auch bei Léopold Sédar Senghor und Ernesto Cardenal (nebenbei: ein Theologie wie er) kundig machen. Es würde seinen Horizont erweitern und ihn erkennen lassen, dass sich Kategorien wie Freiheit, Verantwortung und Toleranz in unserer klein gewordenen Welt auch anders darstellen können als in Mitteleuropa. Ob freilich ein deutscher Senghor, Cardenal oder Havel aus Gauck werden kann, sei dahin gestellt.
Dieser Beitrag interessiert sich für Gaucks Büchlein als Auskunft über die politische Haltung des künftigen Bundespräsidenten. Eine normale Literaturkritik soll und kann das nicht sein. Trotzdem sei exemplarisch auf einen Satz hingewiesen, dessen Stil verräterisch ist, dessen blumiges Pathos auch etwas über Gesinnung sagt. Über seine Tochter schreibt Gauck: »Vor einem Jahr hat mir diese kostbare Frau mein jüngstes, mein neuntes Enkelkind geschenkt.« Also etwas nüchterner dürfte einer, der das oberste Staatsamt bekleidet, schon reden. Das ist wohl Geschmackssache. Ganz nebenbei: das Schlaraffenland des Märchens ist kein »großer Berg von süßem Brei«. Durch diesen Berg muss sich vielmehr fressen, wer ins Schlaraffenland gelangen will. Aber auf solche Kleinigkeiten kommt es nicht an, wo es um Freiheit und Verantwortung geht.
Vielleicht wird sich Joachim Gauck nicht von Freunden, die auf eine Gefälligkeit hoffen, einladen lassen. Vielleicht wird er sich nicht bestechen lassen – mit einem Trinkgeld, was die Sache nicht nur lächerlich, sondern sogar verächtlicher erscheinen lässt. Wetten sollte man darauf nicht annehmen. Aber es bedeutet schon eine Bankrotterklärung, wenn man einen Bundespräsidenten an seinen versagenden Vorgängern misst, nach der Logik des Witzes: »Papa, ich habe dich loben gehört. Da hat jemand gesagt, es gibt Schlimmere als dich.« Gefährlicher als die Korrumpierbarkeit von Politikern ist für die Demokratie deren Politik. Die werden wir bald überprüfen können. Unsäglich albern, fast eine Straftat oder doch – kaum wagt man es zu hoffen – ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit und Vernunft.
| THOMAS ROTHSCHILD
Titelangaben
Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer
München: Kösel 2012
64 Seiten, 10 Euro