»Bei mir war das Schreiben eine Art Ausbruch aus der präformierten Sprache der Kirche und der Theologie«, bekannte der Schweizer Kurt Marti in einem Interview. Wie vor mehr als 100 Jahren sein berühmter Landsmann Albert Bitzius, der unter dem Namen Jeremias Gotthelf in die Literaturgeschichte eingegangen ist, hat auch Marti über viele Jahrzehnte hinweg zwei Professionen ausgeübt: Pfarrer und Dichter. Von PETER MOHR
»Liebe gemeinde / wir befehlen zu viel / wir gehorchen zu viel / wir leben zu wenig«, heißt es geradezu paradigmatisch in Kurt Martis 1969 erstmals und nun in einer Neuauflage erschienenen Band »Leichenreden«. Außerdem ist gerade der Band »Der Alphornpalast« mit 17 bisher unveröffentlichten Prosatexten des bedeutenden Schweizer Querdenkers erschienen.
Bei Marti, der 2002 mit dem Karl-Barth-Preis ausgezeichnet wurde, ist der eine Beruf ohne den anderen nicht denkbar gewesen. Als kritischer und absolut undogmatischer evangelischer Pfarrer (»Für mich ist Gott kein Monopolist«) in der Berner Nydegg-Gemeinde predigte er nicht nur die christliche Lehre von der Kanzel, sondern auch Zivilcourage und Anleitungen zur praktizierten Nächstenliebe. 1972 brachte ihn die unangepasste Querdenkerei in seinem Tagebuch »Zum Beispiel Bern« vors Gericht, und als er im gleichen Jahr einen Wehrdienstverweigerer öffentlich verteidigte, wurde er in der Schweiz nicht nur als »Dreiviertelkommunist« beschimpft, sondern er musste auch auf einen in Aussicht gestellten theologischen Lehrstuhl verzichten.
1959 hatte Marti mit seinem zweiten Lyrikband (bis zuletzt sein bevorzugtes Genre) »Republikanische Gedichte« für Aufsehen gesorgt, in dem er nachhaltig die Abkehr der Literatur vom Elfenbeinturm forderte: »Christliche Dichtung nicht im Museum, sondern an den Autostraßen.«
Mundartpoesie, Erzählungen, in denen der »kleine Mann« im Vordergrund steht, Liebes- und politische Lyrik und vor allem biblische, in die Gegenwart »verpflanzte« Sujets (zuletzt in »Im Sternzeichen des Esels« 1995) umfasst das Spektrum der Martischen Arbeiten.
»Wüsste man, was Liebe ist, gäbs keine Dichtung«, hatte der am 31. Januar 1921 als Sohn eines Notars in Bern geborene Marti in »Notizen und Details« (2010) geschrieben. Als Schüler hatte er gemeinsam mit Friedrich Dürrenmatt das Freie Gymnasium Bern besucht, später zwei Semester Jura und dann erst evangelische Theologie studiert.
Im November legte der Verlag Nagel und Kimche noch einmal die »Leichenreden« aus dem Jahr 1969 neu auf. Durchaus repräsentativ für Martis Verbindung von Kunst und »aufklärerischer Nächstenliebe« heißt es darin:
»als sie mit zwanzig/ ein Kind erwartete/ wurde ihr Heirat/ befohlen./ als sie geheiratet hatte/ wurde ihr Verzicht/ auf alle Studienpläne/ befohlen./ als sie mit dreißig/ noch Unternehmungslust zeigte/ wurde ihr dienst im Hause/ befohlen./ als sie mit vierzig/ noch einmal zu leben versuchte/ wurde ihr Anstand und Tugend/ empfohlen./ Als sie mit fünfzig/ verbraucht und enttäuscht war/ zog ihr Mann/ zu einer jüngeren Frau./ Liebe Gemeinde/ wir befehlen zuviel/ wir gehorchen zuviel/ wir leben zu wenig.«
Peter Bichsel hatte über eine Neuauflage im Jahr 2001 befunden: »Ich staune beim Wiederlesen, wie überraschend neu sie geblieben sind.«
Marti gehörte als überaus engagierter Zeitgenosse auch zu den Gründern der entwicklungspolitischen Organisation »Erklärung von Bern« und hat mit seinen 252 philosophisch-literarischen Kolumnen aus über vierzig Jahren in der Zeitschrift »Reformatio« das Zeitgeschehen pointiert kommentiert. Diese sind 2010 im Sammelband »Notizen und Details« erschienen. Dafür war der Pfarrer-Poet mit dem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet worden.
Kurt Marti, der Georg Trakl und Arno Schmidt als seine bevorzugten Autoren bezeichnete, stand als unangepasster intellektueller Querdenker in der Tradition seiner ungleich populäreren Zeitgenossen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Am 11. Februar 2017 ist Marti im Alter von 96 Jahren im Berner Altersheim Elfenaupark gestorben. Völlig zutreffend hieß es im Nachruf der »Berner Zeitung«: »Marti sprach mit einer eindrücklichen Schärfe, intellektueller Klarheit und politischem Schneid.«
Titelangaben
Kurt Marti: Der Alphornpalast
Prosa aus dem Nachlass
Göttingen: Wallstein-Verlag 2021
104 Seiten14,90 Euro
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Kurt Marti: Leichenreden
Zürich: Nagel und Kimche Verlag 2020
80 Seiten, 20 Euro
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Kurt Marti: Im Sternzeichen des Esels
Zürich: Nagel und Kimche Verlag 2020
192 Seiten, 22 Euro
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