Großer Erzähler und kritischer Geist

Menschen | Zum Tod des Schriftstellers Martin Walser

Er hat bis zuletzt unermüdlich geschrieben. Seine Texte waren zwar deutlich kürzer geworden, aber seine dichterische Fantasie schien nicht zu versiegen. Zuletzt war zum 95. Geburtstag von Martin Walser ein Band mit Traumtexten erschienen, die durch Zeichnungen von Cornelia Schleime mehr als nur begleitet werden. »Mühelos führt der Traum ganz verschiedene Räume durcheinander, ohne dass sie einander verletzen oder auch nur stören«, schrieb Walser. Von PETER MOHR

Elke Wetzig (Elya), Martin Walser 2010 4598, CC BY-SA 3.0
Elke Wetzig (Elya), Martin Walser 2010 4598, CC BY-SA 3.0
Martin Walser war weit mehr als nur einer der wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegs-Schriftsteller. Er hat stets auch mit großer Leidenschaft an öffentlichen Debatten teilgenommen. Daher scheiden sich die kritischen Geister nicht nur an seinen Romanen, sondern auch an seinen politischen Statements. Vor allem seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels spaltete 1998 das Lager der Intellektuellen.

Ähnlich wortgewaltig war die öffentliche Debatte über seinen 2001 erschienenen (völlig misslungenen) Roman ›Tod eines Kritikers‹. Die FAZ hatte vier Wochen vor dem Erscheinen des Buches eine hitzige Diskussion ausgelöst, weil sie in der Hauptfigur (nicht zu Unrecht) frappierende Ähnlichkeiten mit Marcel Reich-Ranicki ausgemacht hatte. Nicht minder medienträchtig war Walsers Verlagswechsel. Nach über 40 Jahren verabschiedete er sich 2004 vom Suhrkamp Verlag, seitdem erscheinen seine Werke bei Rowohlt.

Mehr als vier Jahrzehnte widmete sich Walser den gescheiterten Existenzen des Mittelstandes, die mit ihrem »Schöpfer« gealtert waren – durchaus vergleichbar mit John Updikes ›Rabbit‹-Romanen. Von den ›Ehen in Philippsburg‹ (1955) lässt sich eine verbindende Klammer bis hin zu ›Finks Krieg‹ (1996) setzen. Die Figuren ähneln einander (einige hat Walser nach mehrjährigen Pausen wiederbelebt – so z. B. Helmut Halm und Gottlieb Zürn) in ihrer Antriebslosigkeit, in ihrer Lethargie und ihrem Mittelmaß. Ihr Handeln ist aufs Reagieren reduziert; erst mit Stefan Fink hat Martin Walser einen aktiven, einen agierenden Protagonisten ins Leben gerufen.

Martin Walser, der am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren wurde, hatte alles andere als gute Voraussetzungen, um eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Seine Eltern schlugen sich mehr schlecht als recht mit einer Gaststätte und einem Kohlenhandel durch. Nach dem Krieg, den er ab 1943 als Flakhelfer aktiv miterlebte (diese Erfahrungen flossen in den Roman ›Ein springender Brunnen‹ ein), musste er gleichzeitig seiner Mutter helfen (der Vater war bereits 1938 gestorben) und sich um seine Ausbildung sorgen. Dennoch schloss er gerade 24-jährig sein Studium mit einer Promotion über Franz Kafka ab.

In jüngerer Vergangenheit war der abwechselnd in Überlingen am Bodensee und in München lebende Autor noch einmal zur literarischen Höchstform aufgelaufen – beginnend mit den aphoristisch zugespitzten Texten der Sammlung ›Meßmers Reisen‹ (2003) über den ›Augenblick der Liebe‹ (2004) und seinen letzten großen »Erzähl«-Roman »Muttersohn« (2011) bis hin zum ›Sterbenden Mann‹ (2016) und ›Statt etwas oder Der letzte Rank‹ (2017). Bücher voller Lebensweisheit, in denen sich Walser (mal ironisch, mal bitter-ernst) mit den Problemen des Älterwerdens auseinandersetzte.

»Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.« Diese aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz zog Martin Walser in seinem 2016 erschienenen Roman ›Ein sterbender Mann‹, der ebenso wie sein ein Jahr später erschienenes Werk ›Statt etwas oder Der letzte Rank‹ als künstlerische Melange aus Erzählung, Philosophie, Autobiografie und selbstironischem literarischen Verwirrspiel daher kommt. Dem traditionellen Erzählen hatte Walser in jüngerer Vergangenheit den Rücken gekehrt. Seine Sprache war seitdem noch klarer und präziser geworden.

Martin Walser war nie ein Schriftsteller des Elfenbeinturms – im Gegenteil: Er war ein omnipräsenter »Einmischer«, mal Querdenker, mal die Stimme des »gesunden Volksempfindens«. So bekannte er in einem Interview, dass er nicht aufhören könne, zu fragen, wie die Attentate des 11. September 2001 zustande gekommen seien, und dass »unser aller Begriffe von gut und böse« ins Wanken geraten sind.

Er hat gemahnt, provoziert und kontroverse öffentliche Diskussionen entfacht. Seine Stimme wird fehlen – nicht nur die des großen Romanciers. Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren in Überlingen gestorben.

| PETER MOHR
| Titelfoto: Elke Wetzig (Elya), Martin Walser 2010 4598, CC BY-SA 3.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

From Mystic to Plastic

Nächster Artikel

Integration

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Vater der Powenzbande

Menschen | Zum 125. Geburtstag des Schriftstellers Ernst Penzoldt am 14. Juni

»Ehe er überhaupt sprach, wirkte er wie ein Fremdling, wie ein Mensch aus einer anderen Welt.« So charakterisierte der Verleger Peter Suhrkamp einst den Dichter, Maler und Bildhauer Ernst Penzoldt. Doch dies hinderte den Frankfurter Verlagschef nicht daran, die Werke des liebenswerten Eigenbrötlers zu publizieren. Von PETER MOHR

Ein Augenblick Frieden reicht nicht

Menschen | Leymah Roberta Gbowee: Wir sind die Macht In ihrer Autobiographie Wir sind die Macht schildert die Friedensnobelpreisträgerin Leymah R. Gbowee ihren Weg als Aktivistin in der Friedensbewegung und erzählt ihre einzigartige Geschichte, die uns in den Bann Liberias zieht. Wie sie in ihrem Vorwort deutlich macht, will sie sich von traditionellen Kriegsgeschichten abwenden, die Frauen in den Vordergrund stellen und deren Kriegserfahrungen beschreiben. Von MARITA BÜHRMANN

»Guter Nazi, böser Nazi?«

Menschen | Manfred Wieninger: Die Banalität des Guten Das Böse hat Konjunktur. Die Jahrestage von Erstem und Zweitem Weltkrieg sorgen für einen steten Schub an Darstellungen von Abgründigem. Warum blicken wir so selten auf diejenigen, die sich in dieser Zeit ein Minimum an Menschlichkeit bewahrt haben? Ist Gutes zu tun einfach zu banal – oder in einer Zeit des Opportunismus viel zu schwierig? Das fragt sich Biografieforscher JÖRG FUCHS angesichts der Lektüre von Manfred Wieningers Buch ›Die Banalität des Guten‹.

Ekstatischer Pessimist

Menschen | Zum Tod des Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

»Ich bin wie ein Sehender, doch selbst nicht vergänglich, /ein Luftgeist, trotz grauen Hauptes und Altersgebrechen«, heißt es in dem in diesem Jahr erschienenen Sammelband ›DAS und andere Gedichte‹ (Carl Hanser Verlag), in dem lyrische Arbeiten aus sechs Jahrzehnten versammelt sind und der einen repräsentativen Querschnitt durch das poetische Oeuvre des »ekstatischen Pessimisten« (so ein Selbstzeugnis) Czeslaw Milosz bietet. Von PETER MOHR

Enfant perdu

Menschen | Zum Tod von Lothar Baier

Zuletzt sollte er in der Werkausgabe Jean Améry dessen beide großen Essays »Über das Altern« und »Hand an sich legen« herausgeben. Nun erfahren wir, dass Lothar Baier in Montreal selbst »Hand an sich gelegt« und den »Freitod« gewählt hat. Von WOLFRAM SCHÜTTE