Er hat bis zuletzt unermüdlich geschrieben. Seine Texte waren zwar deutlich kürzer geworden, aber seine dichterische Fantasie schien nicht zu versiegen. Zuletzt war zum 95. Geburtstag von Martin Walser ein Band mit Traumtexten erschienen, die durch Zeichnungen von Cornelia Schleime mehr als nur begleitet werden. »Mühelos führt der Traum ganz verschiedene Räume durcheinander, ohne dass sie einander verletzen oder auch nur stören«, schrieb Walser. Von PETER MOHR
Martin Walser war weit mehr als nur einer der wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegs-Schriftsteller. Er hat stets auch mit großer Leidenschaft an öffentlichen Debatten teilgenommen. Daher scheiden sich die kritischen Geister nicht nur an seinen Romanen, sondern auch an seinen politischen Statements. Vor allem seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels spaltete 1998 das Lager der Intellektuellen.Ähnlich wortgewaltig war die öffentliche Debatte über seinen 2001 erschienenen (völlig misslungenen) Roman ›Tod eines Kritikers‹. Die FAZ hatte vier Wochen vor dem Erscheinen des Buches eine hitzige Diskussion ausgelöst, weil sie in der Hauptfigur (nicht zu Unrecht) frappierende Ähnlichkeiten mit Marcel Reich-Ranicki ausgemacht hatte. Nicht minder medienträchtig war Walsers Verlagswechsel. Nach über 40 Jahren verabschiedete er sich 2004 vom Suhrkamp Verlag, seitdem erscheinen seine Werke bei Rowohlt.
Mehr als vier Jahrzehnte widmete sich Walser den gescheiterten Existenzen des Mittelstandes, die mit ihrem »Schöpfer« gealtert waren – durchaus vergleichbar mit John Updikes ›Rabbit‹-Romanen. Von den ›Ehen in Philippsburg‹ (1955) lässt sich eine verbindende Klammer bis hin zu ›Finks Krieg‹ (1996) setzen. Die Figuren ähneln einander (einige hat Walser nach mehrjährigen Pausen wiederbelebt – so z. B. Helmut Halm und Gottlieb Zürn) in ihrer Antriebslosigkeit, in ihrer Lethargie und ihrem Mittelmaß. Ihr Handeln ist aufs Reagieren reduziert; erst mit Stefan Fink hat Martin Walser einen aktiven, einen agierenden Protagonisten ins Leben gerufen.
Martin Walser, der am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren wurde, hatte alles andere als gute Voraussetzungen, um eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Seine Eltern schlugen sich mehr schlecht als recht mit einer Gaststätte und einem Kohlenhandel durch. Nach dem Krieg, den er ab 1943 als Flakhelfer aktiv miterlebte (diese Erfahrungen flossen in den Roman ›Ein springender Brunnen‹ ein), musste er gleichzeitig seiner Mutter helfen (der Vater war bereits 1938 gestorben) und sich um seine Ausbildung sorgen. Dennoch schloss er gerade 24-jährig sein Studium mit einer Promotion über Franz Kafka ab.
In jüngerer Vergangenheit war der abwechselnd in Überlingen am Bodensee und in München lebende Autor noch einmal zur literarischen Höchstform aufgelaufen – beginnend mit den aphoristisch zugespitzten Texten der Sammlung ›Meßmers Reisen‹ (2003) über den ›Augenblick der Liebe‹ (2004) und seinen letzten großen »Erzähl«-Roman »Muttersohn« (2011) bis hin zum ›Sterbenden Mann‹ (2016) und ›Statt etwas oder Der letzte Rank‹ (2017). Bücher voller Lebensweisheit, in denen sich Walser (mal ironisch, mal bitter-ernst) mit den Problemen des Älterwerdens auseinandersetzte.
»Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.« Diese aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz zog Martin Walser in seinem 2016 erschienenen Roman ›Ein sterbender Mann‹, der ebenso wie sein ein Jahr später erschienenes Werk ›Statt etwas oder Der letzte Rank‹ als künstlerische Melange aus Erzählung, Philosophie, Autobiografie und selbstironischem literarischen Verwirrspiel daher kommt. Dem traditionellen Erzählen hatte Walser in jüngerer Vergangenheit den Rücken gekehrt. Seine Sprache war seitdem noch klarer und präziser geworden.
Martin Walser war nie ein Schriftsteller des Elfenbeinturms – im Gegenteil: Er war ein omnipräsenter »Einmischer«, mal Querdenker, mal die Stimme des »gesunden Volksempfindens«. So bekannte er in einem Interview, dass er nicht aufhören könne, zu fragen, wie die Attentate des 11. September 2001 zustande gekommen seien, und dass »unser aller Begriffe von gut und böse« ins Wanken geraten sind.
Er hat gemahnt, provoziert und kontroverse öffentliche Diskussionen entfacht. Seine Stimme wird fehlen – nicht nur die des großen Romanciers. Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren in Überlingen gestorben.
| PETER MOHR
| Titelfoto: Elke Wetzig (Elya), Martin Walser 2010 4598, CC BY-SA 3.0