Das Münchner Museum Fünf Kontinente zeigt zwei faszinierende Fotoserien von Stéphan Gladieu: afrikanische Maskenperformance als spiritueller Beistand und Protest, mit unheimlich-poetischer Kraft. SABINE MATTHES hat die Ausstellung gesehen

© Stéphan Gladie
Ein gestikulierender Krawattenbaum – Symbol einer korrupten politischen Elite, die mit internationalen Konzernen die Rohstoffe des Kongo plündert. Ein haariges Lockenmonster namens ›Lost Identity‹ und der ›Feather Man‹ erinnern an traditionelle Masken aus Holz, Federn und Blättern. Für den französischen Fotografen Stéphan Gladieu war das der spannende Reiz: Wie die traditionellen Ganzköpermasken aus Naturprodukten neu erfunden werden, in Neuschöpfungen aus Müll – ein inzwischen weitverbreitetes, frei verfügbares Material. Das Paradox des Überflusses – die Demokratische Republik Kongo ist eines der ärmsten Länder der Welt und gleichzeitig eines der reichsten an Bodenschätzen, die wir in den Produkten unserer sauberen digitalen Glitzerwelt nutzen, um sie nach ihrem Ableben, als Elektroschrott und Sondermüll aus Europa, auf krummen Wegen wieder an ihren Ursprung zurückzuschicken, wo sie Städte und Natur überfluten. Und wo die Straßenkünstler Kinshasas sie einsammeln, zu Kunst und Performance recyceln, und ihnen ein zweites Leben einhauchen.
Im Münchner Museum Fünf Kontinente werden in der faszinierenden Ausstellung ›From Mystic to Plastic‹ die beiden Fotoserien ›Egungun‹ (2018-2020) und ›Homo Détritus‹ (2020/2021) von Stéphan Gladieu erstmals gemeinsam gezeigt. Im Halbdunkel der Ausstellung wirken die prachtvoll-majestätischen Bilder wie offene Fenster, große leuchtende Schlüssellöcher, die uns verführen, in ihre geheimnisvoll-vielschichtige Welten einzutauchen. Die spannenden Begleittexte lassen die Bilder im Kopf zu ganzen Filmen explodieren.

© Museum Fünf Kontinente, Foto: Nicolai Kästner
Bevor Gladieu mit den Müllkünstlern in Kinshasa in Kontakt kam, hatte er in der ›Egungun‹-Serie die zeremoniellen Maskenkostüme der Ahnenkultur in der Republik Benin fotografiert. Dort wurde Voudou in den 1990er Jahren als Staatsreligion anerkannt und der 10. Januar zum nationalen Voudou-Feiertag, die Egungun-Zeremonien sind Teil davon. Die vollständig von ihren bunten Egungun-Gewändern verhüllten, gesichtslosen Maskentänzer agieren als Vermittler zwischen den Lebenden und den Toten. In der Zeremonie treten die Ahnen in Erscheinung, um ihren Nachfahren Unterstützung und Rat in allen Lebenslagen anzubieten.
Stefan Eisenhofer, Leiter der Afrika-Abteilung und Kurator der Ausstellung, erklärt die interessante Parallele der beiden Fotoserien mit den unterschiedlichen Maskenperformances: »Dass eben die Maskengestalten immer zu den Lebenden kommen, wenn irgendwie Schwierigkeiten bestehen, wenn die Welt in Unordnung ist, und dass dann durch diese Maskengestalten wieder Ordnung in die Welt gebracht wird und im Idealfall sogar nicht nur mehr Ordnung, sondern wirklich auch eine Lösung der Probleme erreicht wird.«

© Stéphan Gladieu
In Workshops werden junge Leute in verschiedene Kunstpraktiken eingewiesen. Mit seinem Ganzkörperanzug aus Dosen hat Eddy Ekete die lebende Skulptur ›The Can Man‹ geschaffen – als einer der Ersten, der das Thema auf Kinshasas Straßen brachte. Die Idee kam ihm ausgerechnet, als er im sauberen Straßburg eine Dose fand. »Warum daraus kein Maracas-Kostüm machen?«, dachte er sich? Und beim Laufen mit seinem Körper, im Rhythmus der Dosen, Musik machen? Ekete verwandelte sich in eine lebende Rumba-Rassel, erschreckt die Passanten, spielt mit ihnen, und weist auf das Müllproblem hin. Ein anderer Künstler will mit seinem Kostüm aus alten Radioteilen das Bewusstsein für Fake News schärfen.
2018 gründete Eddy Ekete das Künstlerkollektiv »Ndaku ya, la vie est belle«. Heute sind es knapp 30 Künstler: ehemalige Studenten der Kunstakademie in Kinshasa, Straßenwaisen, Traumatisierte und Flüchtlinge aus den endlosen Kriegen in der Region der Großen Seen; zerbrechliche, unkontrollierbare Wesen. Das Kollektiv hat seinen Treffpunkt im Matonge-Viertel, wo der Sänger Papa Wemba seine Band Viva La Musica gründete. Er galt als König des kongolesischen Rumba und Prinz der SAPE-Bewegung (Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes). Die Müllperformances folgen dieser kongolesischen Tradition der Sapeurs, deren exaltierte, flamboyant-elegante Dandyauftritte auch ästhetisch-politischer Widerstand gegen Tristesse und Armut sind.
© Stéphan Gladieu
Auch die Schrecken belgischer Kolonialherrschaft und heimischer Kriege werden artikuliert. Auf der Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85 wurde der Kongo – etwa 70mal so groß wie Belgien – zum Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. Durch John Dunlops Erfindung des Gummireifens 1888 kam es zum Kautschukboom und der grausamen Ausplünderung des Kongo mittels Sklaverei und Zwangsarbeit, massenhaften Geiselnahmen, Tötungen und Verstümmelungen, wie dem Abhacken von Händen, Füßen, Nasen, Genitalien. Etwa zehn Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung – fiel den Kongogräueln zum Opfer.

© Stéphan Gladieu
Über sein Kostüm ›Matshozi 6 Jours (Six Days of Tears)‹, aus rotverschmierten abgerissenen Puppenköpfen, -armen und -beinen, sagt Kabaka, alias »Chaka«, »The Doll Man«: »Jedes mal, wenn ich eine kaputte Puppe irgendwo auf der Strasse liegen sehe, erinnert es mich daran, was in Kisangani geschah. Sie symbolisieren die Opfer, die ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe.“ Er hatte als Kind die Greueltaten während des Sechs-Tage-Krieges im Juni 2000 zwischen ugandischen und ruandischen Streitkräften in seiner kongolesischen Heimatstadt Kisangani miterlebt, mit Hunderten Toten und Tausenden Vertriebenen. Als »Chaka«, »The CD Man«, verkörpert seine Schuppenhaut aus funkelnden CDs das Leuchten und Blitzen der Sprengstoffe und Kugeln der fortwährenden Kriege im Ost-Kongo und den Trost durch die Musik.

© Stéphan Gladieu
Stéphan Gladieus Fotoserie ›Homo Détritus‹ zeugt von der leidenschaftlichen Subkultur, die die Straßen Kinshasas zu ihrer Bühne macht. Diesen täglichen, heroischen Kampf Kinshasas, zwischen Dystopie und Hoffnung, zeigt auch der belgisch-kongolesische Rapper und Filmemacher Baloji in seinem experimentellen Musikvideo ›Zombies‹ (2019). Oder Renaud Barrets Dokumentarfilm ›Systéme K‹ (2019), wo die Straßenkünstler sagen: »Kinshasa ist eine Performance-Stadt. Alles ist eine Performance. Es gibt keine freie Presse in Kinshasa. Unsere Rolle ist es, diese Dinge auszusprechen. Einige von uns recyceln den Abfall des Massenkonsums, den sie sich selbst nicht leisten können. Warum haben wir kein Wasser oder Strom? Kongo ist ein Land großer Reichtümer, aber wir haben keinen Zugang dazu. Wir haben keine Meinungsfreiheit. Trotzdem ist überall Ausdruck. Ob sie es mögen oder nicht, Expression ist unser Leben.«
| SABINE MATTHES
| Titelfoto: Stéphan Gladieu, 2020, L`homme pneu/Der Reifen-Mann, Künstler: Savant Noir, Stadtviertel Matongue Kimpwanza, Kinshasa (DR Kongo) am 29.8.2020, Fotografie – Fine Art Print | © Stéphan Gladieu
Titelangaben
Ausstellung:
›From Mystic to Plastic. Afrikanische Masken
Fotografien von Stéphan Gladieu‹, bis 6. Aug. 2023, Museum Fünf Kontinente, München
Publikation:
›Homo Détritus: Stéphan Gladieu‹
Mit Texten von Wilfried N´Sondé und Stéphan Gladieu
englisch/französisch
London: Thames & Hudson/Actes Sud 2022
96 Seiten, 27,99 Euro
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Wunderbare Ausstellung! DANKE
Eine wohltuende Alternative zu den Farbvariationen und Grauabstufungen der Mainstream- Kunst, die man fühlend erleben kann, aber zu keinem tieferen Nachdenken führen.
Mit frdl. Grüßen
Elfi Padovan