Witness the fitness

Comic | Alison Bechdel: Das Gehemnis meiner Superkraft

Sport ist Mord? Nicht bei Alison Bechdel. In ihrem neuen Comic ›Das Geheimnis meiner Superkraft‹, der in deutscher Übersetzung neu bei Kiepenheuer und Witsch erschien, setzt sie ihre Fitness-Vernarrtheit in Bezug zu den Biographien von Jack Kerouac, Margaret Fuller – und ihrer eigenen. Was in einer Kulturgeschichte populärer Einzelsportarten mündet und parallel noch viel mehr erzählt. Von CHRISTIAN NEUBERT

Karate macht hart, Yoga weich. Jogging wurde einst schief beäugt. Wildheit und Zivilisiertheit kann man in Raten kaufen. Die Kostümdesigner von Star Trek nahmen den Look von Funktionskleidung vorweg. Pazifisten zahlen für die Teilnahme an Bootcamps. Es besteht ein Zusammenhang zwischen HIV und Fitnesswahn. Die bahnbrechenden Einsichten, die ein standesgemäßer Psylocibinrausch vermitteln kann, lassen sich weder adäquat mit Worten noch mit Bildern ausdrücken.

All diese Erkenntnisse offenbart ›Das Geheimnis meiner Superkraft‹, der neue Comic von Alison Bechdel. Die US-Amerikanerin ist die Grande Dame der Graphic Novel, ihr erster umfangreicher Band »Fun Home« zählt zu den großen Meisterwerken der Neunten Kunst. An ihm wird sie sich auf ewig messen müssen – und scheitern. Wie die allerallerallermeisten anderen auch.

Autobiographisches, Biographisches und Graphisches

Macht nix. Denn scheitern will nicht nur gelernt sein: Scheitern ist was für Siegertypen. Wer seinen Superkräften nachspürt, wird immer wieder scheitern müssen, wird weitermachen, sich neu erfinden und schließlich neu finden. Um all das geht es dann auch in ›Das Geheimnis meiner Superkraft‹ – und um noch viel mehr. Er verflicht Autobiographisches, Biographisches und Graphisches zu einer klugen, feinsinnigen Lektüre mit Aha-Effekt.

Nach ihrem Vater (»Fun Home«) und ihrer Mutter (»Wer ist hier die Mutter?«) steht Alison Bechdel diesmal selbst im Zentrum der Erzählung. »Das Geheimnis meiner Superkraft«, so liest man, ist etwas, das Bechdel schon als Kind verfolgt und das sie nie loslässt, weswegen sie sich nach und nach zu einer regelrechten Fitnessfanatikerin mausert. Der Comic zeichnet diesen Werdegang nach. Laufen, Skifahren, Aerobic, Karate, Spinning, Yoga, Bouldern und so weiter, und so fort: Das eine kommt, das andere geht – und Bechdel ist dabei. Indem sie von sich als ungeahnter Sportskanone erzählt, entwirft sie wie im Nebenher eine kompakte Kulturgeschichte populärer Einzelsportarten. Wobei sie es dabei nicht belässt: Schon im Vorwort des Comics erklärt sie, dass es ihr beim Sport sehr schnell um das Gefühl ging, dass Körper und Seele eins werden.

Transzendenz als Ziel

Daher ist auch Transzendenz schließlich das Stichwort, das man dem Comic thematisch voranstellen könnte. Transzendenz als Ziel – und als der Weg dorthin. Ein Weg, der nicht nur von Sport geprägt ist, sondern auch von ihrem Coming Out, von Exzessen und Süchten, Beziehungen und Ängsten, kurz: vom prallen Leben. Bechdel lässt uns an ihrem teilhaben. Zeigefreudig ist sie immer da, wo es sinn- und gehaltvoll ist – aber niemals exhibitionistisch.

Die einzelnen Kapitel sind nach Dekaden aufgeteilt und führen einen von den 1960ern bis in die 2010er. Was Bechdel im Laufe der Jahrzehnte an Themen verhandelt, setzt sie obendrein mit biographischen Versatzstücken von Jack Kerouac, Margaret Fuller und anderen historischen Persönlichkeiten in Bezug. Sie schafft dadurch immer wieder neue Bedeutungsebenen – und erneut einen sagenhaften Comic, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt. Auch dann, wenn man sich bislang so gar nicht für Sport interessierte.

Koloriert hat den Band übrigens Holl Rae Tayler, Bechdels Lebensgefährtin. Bechdels luftiger, präziser Strich erscheint zwischen den flächigen Pastelltönen noch leichter als zuvor. Wer weiß: Vielleicht liegt auch in diesem Detail ›Das Geheimnis meiner Superkraft‹.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Alison Bechdel: Das Gehemnis meiner Superkraft
(The secret to superhuman strength)
Aus dem Englischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023
240 Seiten. 30 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Erben des Rächers

Nächster Artikel

From Mystic to Plastic

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Spaziergänger zwischen den Welten

Comic | Jiro Taniguchi : Die Wächter des Louvre Der renommierte japanische Ausnahmekünstler Jiro Taniguchi (›Vertraute Fremde‹, ›Der spazierende Mann‹) wurde im Jahr 2014 im Rahmen einer jährlich stattfindenden Zusammenarbeit des Louvre mit einem Comicverlag dazu ausgewählt, ein Comicalbum über dieses wohl berühmteste aller Museen zu schaffen. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Album, in dem Taniguchi den europäischen Einflüssen auf seine Mangas nachspürt – aber leider auch viel ins Dozieren gerät. BORIS KUNZ hat einen langen Spaziergang mit ihm unternommen.

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.

Leben und Sterben in L.A.

Jaime Hernandez: Love and Rockets: Der Tod von Speedy / Liebe und Versagen ›Reprodukt‹ blickt zu seinem 25. Verlagsjubiläum auf die Veröffentlichungen seine Anfangstage zurück – und bringt zwei Sammelbände der langlebigen Erfolgsserie ›Love and Rockets‹ heraus. CHRISTIAN NEUBERT hat sie unter die Lupe genommen.

Karikaturen und Comic-Paraden

Comic | ICSE 2016 Spezial: Rückblick auf den 17. Internationalen Comic Salon Erlangen 2016 Während 2014 der Internationale Comic Salon in Erlangen noch das Thema »Erster Weltkrieg« wählte, ging es dieses Jahr sowohl thematisch als auch stilistisch wesentlich vielfältiger und bunter zu, mit Kunst aus der ganzen Welt. 25 000 Comicinteressierte besuchten vom Donnerstag, den 26. Mai, bis Sonntag, den 29. Mai den Comic Salon. 500 Künstler und 150 Aussteller waren mit dabei. Es ist der 17. Comic Salon, der alle zwei Jahre Farbe und Leben in die sonst so beschauliche und ruhige fränkische Stadt Erlangen bringt. PHILIP J. DINGELDEY

»Ich mag’s gern schmutzig!«

Comic | Kim Schmidt: Local Heroes #16. Schweinegeil Von der erfolgreichen Cartoon-Serie ›Local Heroes‹ gibt es jetzt ein »Erotik Spezial«, das auch das Interesse des Versenders Orion geweckt hat. ANDREAS ALT hat reingeschaut.