Was geschah wirklich mit Melina Migoya?

Comic | Hernán Migoya/Joan Marin: Entführt

Dem Panini Verlag gelingt es in letzter Zeit immer wieder, mit anspruchsvollen Grahpic Novels, die dann auch in entsprechend edler Hardcover-Aufmachung erscheinen, Akzente in seinem bunten Verlagsprogramm zu setzen. Dazu gehört auch Entführt, eine ausführliche Studie über eine Geiselnahme. BORIS KUNZ hat sie sich angesehen.
Entfuehrt
Auf dem Weg zur Universität teilt sich die junge Studentin Melina in Lima, der Hauptstadt Perus, ein Taxi mit einem ihr kaum bekannten Kommilitonen. Eine Straßenecke weiter steigt ein Mann mit einem falschen Bart und einer Waffe dazu und verbindet Melina die Augen. Das ist der Beginn eines Entführungsfalles, der sich am 4. Dezember 1997 so zugetragen hat, und der von Autor Hernán Migoya teilweise minutiös nacherzählt wird.

Cleverer Perspektivwechsel

Der sonst dem Plakativen und Trashigen nicht abgeneigte Migoya erzählt hier sehr nüchtern und gibt dem Comic zunächst den Anstrich eines objektiven Tatsachenberichts. Der dramaturgische Aufbau des Bandes erinnert allerdings viel mehr an einen klassischen Thriller als an eine Reportage. Der Anfang der Geschichte wird streng aus der Perspektive des Entführungsopfers erzählt, sodass auch der Leser manchmal nur noch erahnen kann, was außerhalb des großen Koffers vor sich geht, in den Melina gezwungen und in dem sie an den endgültigen Ort ihrer Gefangenschaft verfrachtet wird. Dafür werden uns die Erinnerungen, Gedankengänge und Einbildungen von Melina zugänglich gemacht. Doch schließlich verlässt Migoya diese Perspektive und folgt abwechselnd auch den anderen Hauptfiguren dieser Geschichte.

Dies ist zum einen Melinas Vater, ein mittelständischer Anwalt, der teilweise mit bewundernswerter Nervenstärke um das Leben seiner Tochter verhandelt und doch beinahe an den völlig überzogenen Lösegeldvorstellungen der Entführer verzweifelt. Zum anderen sind das die Entführer selbst, die ebenfalls mit der Situation überfordert sind. Die etwas wild zusammengewürfelte Truppe, die sich sehr darum bemüht, Professionalität und Gefährlichkeit vorzutäuschen, hat offenbar niemals zuvor einen Menschen entführt und sieht sich immer wieder von den banalsten Problemen überfordert.

Migoya ist mit seiner Erzählung immer dort, wo gerade am meisten passiert, lässt den Leser die Geschichte aus verschiedensten Blickwinkeln erleben, jedoch weniger im Interesse einer vielschichtigen und scharfsinnigen psychologischen oder gesellschaftlichen Analyse der Situation – auch, wenn man dem Comic diese Qualitäten nicht absprechen kann. Vielmehr setzt er Spannung, die manchmal dadurch erzeugt wird, dass dem Leser Informationen vorenthalten werden. Manchmal entsteht sie auch durch die dramatische Ironie, die einen beobachten lässt, wie die zunehmende Verunsicherung und Verzweiflung auf beiden Seiten die Entführung immer wieder unnötig in die Länge zieht.

Vorgetäuschte Naivität

Die schwarz-weißen Zeichnungen von Joan Marin sind zwar detailreich, dabei allerdings sehr einfacher Natur. Auf Stimmigkeit bei den Details, etwa der Einrichtung von Wohnungen oder der Einzelheiten bei den Straßenszenen in Lima wird, so hat man das Gefühl, eher vom Autor als vom Zeichner viel Wert gelegt. Gleichzeitig, so scheint es, hat sich Martin weniger um anatomische Genauigkeit der Figuren oder Dynamik in den Bewegungen Mühe gemacht.

Der bewusst kindlich-naiv und unvollkommen belassene Stil Martins passt ganz gut zu der vorgeblich naiv nacherzählenden, autobiografisch geprägten Erzählweise des Comics – beinahe so, als hätten die Protagonisten der Geschichte selbst den Zeichenstift geführt. Andererseits hätte es eine etwas ausführlichere oder präzisere grafische Gestaltung dem Leser sicherlich erleichtert, der Geschichte zu folgen. Immerhin lassen sich nicht immer alle Figuren und Gesichter so gut voneinander unterscheiden, wie das bei der nicht unkomplizierten Handlung von Vorteil gewesen wäre.

Dennoch entwickelt das Comicalbum über die lange Strecke von fast 250 Comicseiten eine ganz eigene Spannung, die sehr davon lebt, wie unaufgeregt Migoya die dramatischen Ereignisse schildert, ohne dabei den Blick für den Aberwitz so mancher Situation zu verlieren. Wenn dann eine Geldübergabe daran scheitert, dass die mit dem Geldpaket losgeschickte Haushälterin zwei Telefonzellen verwechselt, oder die Entführer einen Handwerker abwimmeln müssen, der darauf besteht, das Bad auszumessen, in dem Melina gerade gefangen gehalten wird, dann sind das Momente, die einen den Atem anhalten lassen wie in einem guten Thriller, und die einen beinahe vergessen lassen, dass man es mit einem Tatsachenbericht zu tun hat.

Die Suspense hält sich allerdings auch deswegen in Grenzen, weil man sich zumindest einer Sache schon dann gewiss sein kann, wenn man die vorangestellten Danksagungen aufmerksam gelesen hat: Melina wird ihre Entführung lebendig überstehen, ist sie doch seit mehreren Jahren mit keinem anderen als Hernán Migoya verheiratet. Es sind also nicht nur die Polizeiberichte, Zeugenaussagen und Telefonprotokolle, anhand derer der Autor die Geschichte so detailliert und teilweise minutiös nachbauen konnte, sondern auch die lebendige Erinnerung der entführten Melina selbst, die den Erzählton des Comic prägen. Damit steht Entführt in gewisser Weise sogar in der Tradition von anderen autobiographischen Graphic Novels wie Persepolis oder Ein iranischer Alptraum, auch wenn er es, vor allem in grafischer Hinsicht, mit solchen Vorbildern nicht immer aufnehmen kann.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Hernán Migoya (Text), Joan Marin (Zeichnungen): Entführt (Plagio – El secuestro de Melina)
Aus dem Spanischen von Anja Rüdiger
Stuttgart: Panini Verlag 2013, 268 Seiten, 24,95 €

Reinschauen
Homepage des Autors Hernán Migoya
Über den Zeichner Joan Marin

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