Vom Blitz getroffen

Roman | Ulrike Sterblich: Drifter

Wer ein Faible für schräge Figuren, für fantastische Handlungssequenzen und gedankliche Volten hat und sich überdies eine Prise jugendlichen Eigensinn bewahrt hat, der kommt im neuen Roman der 53-jährigen Berliner Schriftstellerin Ulrike Sterblich voll auf seine Kosten. Die studierte Politologin hatte zuletzt 2021 den Roman The German Girl veröffentlicht. Von PETER MOHR

Die Autorin bricht mit allen Genreregeln, vermischt Sachbuchpassagen aus der Welt der Wirtschaft, schräge Milieuschilderungen und eine fast liebevolle Beschreibung einer Freundschaft zwischen zwei Männern, die sich seit Schultagen kennen und inzwischen Mitte dreißig sind.

Ich-Erzähler Wenzel ist mit seinem beruflichen Status quo alles andere als zufrieden: »Ich hingegen schaffte es, mich an jenen Ort zu manövrieren, wo man bei minderer Bezahlung einen schleichenden Menschenhass entwickeln und sonst nicht viel bewegen konnte: ins Community-Team.«

Sein Freund Killer, ein Vulkan an verrückten Ideen, hat es zum PR-Manager eines großen Lebensmittelkonzerns gebracht. Die Beiden verbindet eine Art »Freundschaft fürs Leben«, sie erinnern ein wenig an Tom Sawyer und Huck Finn, aber auch (da bei ihnen einiges aus dem Ruder läuft) an Stan Laurel und Oliver Hardy.

Eine junge, völlig ausgeflippt gezeichnete Frau im goldenen Kleid, der sie in der S-Bahn begegnen und die ein Buch des Autors Drifter in der Hand hat, dass es noch gar nicht gibt, sorgt für starke Turbulenzen – sowohl in der Handlung als auch im Kopf des Lesers.
Diese Influencerin namens Ludovica hat beim Aussteigen aus der S-Bahn mit einem Finger einen Blitz in die Luft gemalt. Oder war das nur Einbildung? Wenzel glaubt, es so gesehen zu haben.

Killer wird wenig später beim Besuch eines Pferderennens tatsächlich von einem Blitz getroffen. Er überlebt, aber stellt fortan sein Leben auf den Kopf. Es hat offensichtlich ganz tief bei ihm »eingeschlagen«. Er trennt sich von seinem Handy, schmeißt seinen Job hin und verwandelt sich in einen ziellos durch den Alltag vagabundieren Hippie.

Ulrike Sterblich bürstet alles gegen den Strich: die Kunst (vor allem den Film), die Liebe und vor allem die neuen Medien und ihre verrückte Influencer-Szene. »Frage: ›Gibt es auch Horror-Opern?‹ Antwort: ›Du, alle Opern sind Horror!‹«  Provokationen und ein rebellischer Unterton ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch.

Killer und Wenzel treffen sich in einer heruntergekommenen Siedlung am Berliner Stadtrand wieder – dort, wo sie ihre Kindheit verbracht haben. Genau da hat sich aber auch Influencerin Vica mit ihrem übergroßen verwilderten Hund und einigen Gefolgsleuten niedergelassen, um das »Syndikat für Halbwahrheit« auszubauen.

Vica, die Dauer-Onlinerin, gibt in einem erfolgreichen Bezahlvideo in Begleitung ihres tanzenden, zotteligen Hundes Börsentipps. Der mit seinem TV-Job unglückliche Wenzel steigt schließlich bei Vica ein: »Niemand verhielt sich beleidigt, sarkastisch, passiv-aggressiv oder aktiv-aggressiv, niemand schrie Zensur oder Cancel Culture.«

Am Ende dieser turbulenten Story, die sich wie ein ellenlanger Dauersprint mit Maximalpuls liest, bleiben viele offene Fragen. Hält die Freundschaft zwischen Wenzel und Killer? Wie hat es Vica, diese liebenswerte Teufelin, geschafft, eine TV-Talkshow platzen zu lassen, weil sie durch irgendeinen Zauber dem Moderator das Skript für die Sendung entwendet hat? Und gibt es »Drifters« vierten Roman »Elektrokröte« überhaupt? Ein verrücktes Buch, das dem Leser alle Sinne durcheinander wirbelt. Ein faszinierendes anarchisches Märchen für Erwachsene.

| PETER MOHR

Titelangaben
Ulrike Sterblich: Drifter
Hamburg: Rowohlt 2023
288 Seiten. 23 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn das Früher noch weiterlebt

Nächster Artikel

Bilder der Zerrissenheit

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Generationenkonflikt

Jugendbuch | Sarah N. Harvey: Arthur oder Wie ich lernte den T-Bird zu fahren Der siebzehnjährige Royce hat eine besondere Aufgabe übernommen: Gegen Bezahlung soll er sich um seinen Großvater kümmern. Aber Arthur ist ebenso exzentrisch wie unausstehlich. ANDREA WANNER beobachtete eine zaghafte Annäherung zwischen den beiden.

Ein Arbeitsunfall mit Folgen

Roman | Jo Lendle: Was wir Liebe nennen Was wir Liebe nennen – so heißt der neue Roman des frisch gekürten Hanser-Verlagschefs und Schriftstellers Jo Lendle, der mit seinen Geschichten zu fesseln versteht, diesmal in die Gestalt eines Zauberers schlüpft, mit allerlei Motiven jongliert, den Drahtseilakt über Kontinente hinweg wagt und sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Manchmal mit doppelbödigen Tricks – findet HUBERT HOLZMANN.

Mündendorf ist überall

Roman | Martin Becker: Kleinstadtfarben

Provinz und proletarische Herkunft, Familienbande und Fluchtreflexe, kleinbürgerliche Enge und klamme Kindheitserinnerungen sind immer wiederkehrende Themen in Martin Beckers Romanen. Gegen zwiespältige Gefühle ist auch sein Kleinstadtfarben-Antiheld Peter Pinscher nicht gefeit. Erscheinen manche Notwendigkeiten nicht wie purer Verrat? Denn: »Das Haus seiner Kindheit verkauft man nicht, das Haus seiner Kindheit verliert man.« Von INGEBORG JAISER

Jugend, forsch!

Roman | Scott Bergstrom: Cruelty 17 Jahre ist die Heldin von Scott Bergstroms Thrillererstling Cruelty alt. Und ihr wird eine Menge abverlangt. Denn nach dem Verschwinden ihres Vaters macht sich Gwendolyn Bloom auf, ihm selbst und seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Eine halsbrecherische Reise beginnt, die Gwen von New York aus über Paris und Berlin schließlich bis nach Tschechien und in die Nähe eines hochgefährlichen Mannes führt. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Ende vom Anfang

Roman | Tom Cooper: Das zerstörte Leben des Wes Trench Tom Coopers Debütroman ›Das zerstörte Leben des Wes Trench‹ ist ein aggressiv männlicher Aufschrei aus einer geplagten Region. Bis zuletzt spannend beleuchtet er das hoffnungslose Leben in den Sümpfen Louisianas nach dem Wirbelsturm Katrina und einer Ölpest. Dabei vermischen sich Klischees von Coming-of-Age-Romanen, klassischen Abenteuergeschichten und filmische Eindrücke aus zeitgenössischen Thrillern. VIOLA STOCKER versuchte, nicht zu versumpfen.