Ben Gijsemans nimmt sich mit dem in der Edition Moderne erschienenen Comic ›Aaron‹ einem Tabu-Thema an: Pädophilie. Einfühlsam und mit gebührender Vorsicht erzählt er von einem jungen Mann, der entsprechende Neigungen bei sich feststellt. Seine Zerrissenheit, Scham und Angst wird überzeugend ausgearbeitet. Von BIRTE FÖRSTER
Das Thema Pädophilie ist stark stigmatisiert. Das ist erst mal wenig verwunderlich, immerhin geht es dabei um die Schwächsten und Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft – die Kinder. Fälle von Kindesmissbrauch sorgen in der Öffentlichkeit meist für emotionale Reaktionen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Pädophilie allerdings zu Unrecht mit Straffälligkeit gleichgesetzt. Dass ein Großteil der Betroffenen ein Leben lang darunter leidet, ohne je einem Kind etwas anzutun, dürften die wenigsten wissen.
Mit seinem vorsichtigen, einfühlsamen Comic ›Aaron‹ versucht der belgische Comickünstler Ben Gijsemans dieses Bild geradezurücken, indem er den Fokus auf einen jungen Mann mit Pädophilie richtet. Gerade einmal 25 bis 50 Prozent der Menschen mit Pädophilie werden tatsächlich straffällig, wie im Nachwort des Bandes zu erfahren ist.
Aaron ist 20 Jahre alt und wohnt noch bei seinen Eltern. Er verbringt viel Zeit in seinem Zimmer, da er sich auf zwei Nachprüfungen vorbereiten muss. Aber seine Konzentration lässt immer wieder nach. Oft schweift sein Blick durch das Zimmerfenster auf einen Fußballplatz, wo er einem Jungen beim Fußballspielen zusieht. Immer wieder nimmt er selbst einen Ball zur Hand, um nach draußen zu gehen und mit dem Jungen zusammen Fußball zu spielen. Aber im letzten Moment lässt er es doch sein und bleibt in seinem Zimmer. Eine willkommene Ablenkung und die Möglichkeit, sich in andere Welten zu flüchten, bieten ihm seine Superhelden-Comics.
Ratlosigkeit und Verwirrung in klaren Linien
Die actiongeladenen Szenen in knalligen Farben stehen im Kontrast zu den in matten Farben gehaltenen Panels der Haupthandlung. Über viele Seiten hinweg ist Aaron in seinem Zimmer zu sehen. Die Handlung schreitet ruhig und gemächlich voran. In langen Szenen mit kaum wechselndem Hintergrund ist genau zu erkennen, wie Aaron agiert. An Aarons reduzierter, aber expressiver Mimik und Gestik, gezeichnet im Stil der Ligne Claire, lassen sich Ratlosigkeit und Verwirrung, aber auch seine widerstreitenden Gefühle ablesen.
Aaron scheint langsam zu begreifen, was in ihm vorgeht. Erste Andeutungen, die auf die Problematik hinweisen, sind sehr subtil. Behutsam und mit viel Feingefühl nähert sich Gijsemans dem Thema an. Als Aaron abends mit seinen Eltern vor dem Fernseher sitzt, ist die Rede von einem verhafteten Kinderschänder. Gleichzeitig scheint er wenig Interesse an Frauen seines Alters zu haben. Bei einem Treffen in der Kneipe versucht sein Kumpel ihn dazu zu überreden, eine junge Frau, die Interesse an Aaron zeigt, anzusprechen. Aaron geht schließlich auf sie zu, aber seine Motivation scheint gering.
Immer stärker wächst in ihm die Erkenntnis, dass er sich zu Kindern hingezogen fühlt. Das wird besonders deutlich, als er zusammen mit seinem Bruder, dessen Freundin und ihrem Sohn Arian ein Wochenende in den Ardennen verbringt. Er genießt es, Zeit mit dem Jungen zu verbringen und auch dieser scheint in Aaron einen geeigneten Spielkameraden gefunden zu haben. Aber Aaron ist hin- und hergerissen zwischen Nähe und Distanz. Eine Beziehung wird niemals möglich sein, das ist ihm absolut bewusst. Aber deswegen lässt sich der Wunsch danach nicht einfach verdrängen.
Ein Kampf gegen sich selbst
Aaron überschreitet nie eine Grenze, vielmehr ist er vor sich selbst und seinen inneren Neigungen zutiefst erschrocken – mit dem Wissen, dass er diese niemals ausleben kann. Kommentare und Gedanken, die das Geschehen einordnen, gibt es nicht. Aber die braucht es auch nicht. Die Bilder stehen als Ausdruck seiner Wut und Verzweiflung, sie zeigen einen jungen Mann im Kampf gegen sich selbst. Und die fehlenden Worte sind Sinnbild für etwas, das nicht ausgesprochen werden darf.
Das Nachwort von Fanny de Tribolet-Hardy, Leiterin der Präventionsstelle Pädosexualität an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, liefert eine detaillierte Einordnung, die neue Aspekte von Pädophilie vermittelt. Darin wird nicht nur erläutert, dass nur ein Teil von Pädophilie betroffener Menschen fremdschädigendes Verhalten ausübt, sondern auch, dass jemand, der sich an Kindern vergeht, nicht unbedingt pädophil sein muss.
Ben Gijsemans hat sich mit ›Aaron‹ an ein schwieriges Thema herangewagt. Aber es gelingt ihm überzeugend, Aarons innere Zerrissenheit, seine Scham und Angst davor, entlarvt und ausgegrenzt zu werden, zu transportieren. Und damit das Tabu-Thema und die lebenslange Bürde, die pädophile Menschen mit sich tragen, zur Sprache zu bringen.
Titelangaben
Ben Gijsemans: Aaron
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Zürich: Edition Moderne2023
216 Seiten, 35 Euro