Ziege

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ziege

Weshalb nicht Ziegen, wollte Tilman wissen.

Annika griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Tee. Die Kanne trug wie die Tasse als Dekor einen rostroten Drachen. Ob ein Stövchen mit diesem Motiv erhältlich wäre, lindgrün?

Sie war vernarrt in diesen Drachen, er war zierlich und anmutig wie jener von Hergé aus dem Blauen Lotus in Shanghai, hunderttausend Höllenhunde, einer Schlange, so wird erzählt, wüchsen Füße, sobald sie das Alter von zweihundert Jahren erreicht habe, und sogar Flügel, wird erzählt, fledermausartige Flügel, auf diese Weise entstünde der Drache – geheimnisvolle Geschöpfe existierten unter den Himmeln.

Annika erschrak. Ziegen, fragte sie.

Unsere Großeltern erinnern sich, daß in den fünfziger Jahren viele Haushalte Ziegen hielten, das Leben stelle geringe Ansprüche, sagen sie, und Ziegen hätten während der Not der Nachkriegsjahre die Lebensgrundlagen gesichert.

Ziegen?

Heute sei das anders, sicher, man strebe nach anderen Dingen, niemand wolle Ziegen halten, diese Dinge liefen nicht nebenher, undenkbar, wer könne heute noch Zeit erübrigen, die Abläufe des Lebens seien lückenlos arrangiert.

Annika nickte. Hund, sagte sie, Katze, Wellensittich, der Mensch halte ein Haustier, um sich abzulenken, seine privaten Ansprüche seien gering, er wolle wenigstens unterhalten sein, eine Freundin habe einen Beo, eine andere einen Vogel, der Bischofsmütze heiße, mit einer vom Kopf hochstehenden roten Feder.

Eine Geiß brauche einen Stall und brauche Auslauf.

Wir hätten einen Garten, Tilman.

Sie würde uns mit Milch und Käse versorgen, sie sei genügsam, sie setze Standards für einen bescheidenen Lebenswandel, zwei Geißen oder drei ernähren eine Familie, bescheidener Lebenswandel definiere Maßstäbe für unsere Zukunft, wir müßten unsere Ansprüche zurückschrauben.

Annika mußte unwillkürllich lachen. Alle Kriterien wären erfüllt, spottete sie: regionale Erzeugung, geringer Energieverbrauch, artgerechte Tierhaltung – was verlange man mehr?

Ernsthaft, Annika, ich möchte vorbereitet sein, wenn die Infrastruktur kollabiere, das Dasein hänge am seidenen Faden – sei es die Seuche nehme kein Ende, sei es die Grundversorgung breche ein: Wasser, Energie.

Mache dir keine falschen Hoffnungen, Tilman, sagte sie, dann finde niemand eine Zuflucht, nirgends, die hochsensible Zivilisation sei verletzlich, ein Glied nur breche, und die Kette reiße ein.

Es gäbe eine Menge zu tun, Annika, oder willst du dich zurücklehnen, willst du die Dinge treiben lassen. Sieh dich um – die Infrastruktur, sagte er, sei längst reduziert, Elend greife um sich, und das werde sich fortsetzen, Politik trete machtlos auf wie nie zuvor, sei ein Spielball der Finanzmärkte. Wir müßten abrüsten, verstehst du, wir müßten unsere globalen Produktions- und Lieferketten rückbauen, den Profiteuren den Boden unter den Füßen wegziehen, aber Politik sei zu schwach.

Die Lage sei aussichtslos, sagte sie, seit geraumer Zeit seien Abläufe etabliert, die der Mensch nicht länger im Griff habe, und er bilde sich dennoch ein, sie zu lenken. Das sei ein Irrtum wie der, zu glauben, er kontrolliere die Natur oder gar die Seuche. Nichts habe er in Händen, sagte sie, nichts, null, und das sei, was den modernen Menschen charakterisiere, dieser Irrglaube, dieser Wahn, dieser Rausch.

Eben, Annika, verstehst du, deshalb die Ziegen, Ziegenhaltung, sagte er, sei für beide von Vorteil, ernsthaft, er werde seine Geißen pfleglich behandeln, und sie lieferten ihm auskömmliche Nahrung.

Milch, Käse. Das genüge?

Er werde kleine Brötchen backen müssen, nichts mit Leckereien, Tilman lachte, der Gourmet gehöre der Vergangenheit an.

Trostlose Zeiten. Ziegenhaltung, sagte sie, sei mit Arbeit verbunden, er solle das nicht unterschätzen.

Zum erstenmal empfände er den Einklang mit der Natur.

Habe er eine Wahl?

Nein, habe er nicht.

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