Krieg verändert das Leben der Menschen plötzlich. Angst, Trauer, Wut und Hilflosigkeit machen sich breit, für viele bedeutet Krieg den Verlust ihrer Heimat. Auch die Familie der 14-jährigen Marzia muss fliehen. Und ihre wirren Gedanken und Eindrücke, Erlebnisse und Begegnungen vertraut sie einem improvisierten Tagebuch an. Von ANDREA WANNER
Schnell musste es gehen. So ist das einzig Greifbare die Aufbauanleitung für das Bett, das am Vortag der Flucht geliefert wurde. Eine planlose Aneinanderreihung sich widersprechender Anweisungen, damit aus den Einzelteilen ein Bettgestell zusammenwächst, das Kinder-Etagenbett »Phoenix Nest PH24«. In diesem Nest wird niemand eine Nacht verbringen. Auf der Rückseite notiert das Mädchen, was ihm durch den Kopf geht. Sie wird das Papier einem Schriftsteller übergeben, den sie im Motel »Ruhe sanft« kennenlernen wird und mit dem sie sich austauscht. Er wird es lesen, wenn sie sich lange genug nicht bei ihm gemeldet haben wird. Ein schlechtes Zeichen, wenn er nie wieder von ihr hört? Ein gutes? Gar keines? Niemand weiß es.
Sechs Menschen, eine Familie, auf der Flucht. Eine Schicksalsgemeinschaft, die in ein Auto gezwängt dem Raketenbeschuss zu entkommen versucht. Natürlich geht es um den Ukrainekrieg, den Versuch, dem russischen Angriff zu entfliehen. Der schwerhörige Opa sitzt am Steuer, Oma, Vater, Mutter, Marzia und ihre jüngere Schwester zwängen sich zusammen mit ihren Habseligkeiten und dem Proviant ins Innere des Wagens. Alle sind voneinander genervt, streiten sich, werden laut, versöhnen sich wieder. Eine unerträgliche Stimmung in dieser »Sardinenbüchse«, aus der es kein Entrinnen gibt. Ein unendlich langsames Vorankommen im Stau, weil auch andere wegwollen. Bilder und Szenen am Wegrand, Bilder und Szenen im Auto, Bilder und Szenen in Marzias Kopf.
Wild aneinandergereiht wird des den Leserinnen und Lesern präsentiert mit einem Vorwort jenes fiktiven Autors, der auch der Autor des Buches ist. Andrej Bulbenko ist das Pseudonym eines ukrainischen russisch schreibenden Autors und Marta Kajdanowskaja ist das Pseudonym einer 15-jährigen Schülerin. Beide verbindet die Fluchterfahrung und sie wollten darüber berichten.
Wo endet die Fiktion und wo beginnt das echte Leben? Man sucht nach Fäden in einem Wirrwarr, die man nicht zu fassen bekommt. Das ist Krieg. Jegliche Ordnung ist verschwunden, die Orientierung nicht mehr möglich. Wahr? Erdacht? Auf jeden Fall schrecklich. Und dann wieder grotesk witzig und zum Lachen, einem Lachen, das einem im Hals steckenbleibt.
Die Geschichte geht unter die Haut. An manchen Stellen mehr als man möchte. Der Krieg ist vor unserer Haustür, über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine sind bei uns, in Deutschland. Die, die es geschafft haben. Die trotzdem Opfer sind.
Eine Schlüsselszene erzählt, wie Marzia und ihre Schwester Tonja eine Grube im Sand ausheben, um ihre Spielsachen zu beerdigen. »Verstehst du, dass man nicht immer nur an sich selbst denken kann, dass man irgendwann erwachsen werden muss? Also warum nicht jetzt?« Was sie dort vergraben, sind nicht nur irgendwelche liebgewonnenen Dinge, es ist ihre Kindheit und Jugend, die dort zu Grabe getragen wird, die Selbstverständlichkeit zu leben und sich an der Welt zu freuen. Was für ein außergewöhnliches Buch.
Titelangaben
Andrej Bulbenko und Marta Kajdanowskaja: Elektrizität und Himmelsfische
Eine Fluchtgeschichte über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Henriette Reisner
München: dtv Reihe Hanser 2024
192 Seiten, 18 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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