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Ordnung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ordnung

Farb war nicht von dieser Welt, nein, diese Welt lief an ihm vorbei, ihr hohes Tempo ließ ihn kalt, ihr verführerischer Glanz und ihre lauthals brüllende Musik hinterließen keinen Eindruck, er war damit zufrieden, an den Nachmittagen in aller Stille einen Tee zu trinken und zu plaudern, nichts lockte ihn fort, ferne Länder durften ferne Länder bleiben.

Die zehntausend Dinge seien wohlgeordnet, erklärte Tilman, die Sonne wecke den Tag und geleite ihn zur Ruhe, Früchte und Blumen wüchsen auf den Feldern, die Dinge hätten ihren Platz, sorgsam ausbalanciert zwischen Mangel und Überfluß, ohne daß der Mensch hätte eingreifen müssen, vielleicht liege hier der Wendepunkt und nicht, wie Gramner meine, im Wandel vom Windjammer zum Dampfschiff, also weit früher als gedacht, und nein, der Mensch, der eingreife, der die Abläufe selbst gestalten, gar verbessern wolle, verschätze seine Fähigkeiten maßlos, die Dinge seien  wohlgeordnet, niemand habe den Menschen um Hilfe ersucht, er verkenne seinen Auftrag.

Sofern man überhaupt von einem Auftrag reden könne, wandte Farb ein und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika schenkte Tee ein, Yin Zhen, es war ein angenehmer Frühlingstag, sie hatten das Drachenservice aufgedeckt, ein Geschenk, rostrot, das Tilman vor einigen Jahren in Beijing gekauft hatte, als er dort war, einen Halbmarathon auf der Großen Mauer zu laufen.

Der Mensch wisse nicht, was er anrichte, sagte Annika, wo er sich aufhalte,  stifte er Durcheinander, es gehe bergab, er trotze verbissen und strebe der Dinge Herr zu werden, einen Murks richte er an, die Ordnung wachse ohne sein Zutun, niemand habe um seine Hilfe gebeten.

Irregeleitet, sagte Wette, und sei im Begriff, die Fundamente des Lebens zu zerstören, kalten Blutes, man werfe nur den Blick auf den Gaza-Streifen.

Tilman rückte seinen Sessel näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Die Dinge würden ihre Ordnung aus eigener Kraft wahren, sagte Annika, sie wüchsen und gediehen ohne sein Zutun, er sei ein Störenfried in der Harmonie der Schöpfung, und was sie angehe, sie wundere sich, daß die Dinge letzten Endes trotz seiner Eingriffe festen Bestand hätten, wahrscheinlich existierten eben doch Engel, die die Fundamente des Lebens schützen würden, die destruktive Kraft des Menschen sei gewaltig.

Tilman blickte hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Die rhythmischen Abläufe, sagte Annika, der Wandel von Geburt zu Tod und wieder zu Geburt, das Wachstum, das Gedeihen, der Verfall, darin erkenne sie das Wirken der Engel.

Farb aß ein Stück von der Pflaumenschnitte.

Der Mensch wisse so viele Dinge nicht zu erklären, sagte Annika, wo das Leben seinen Ursprung nehme, weshalb der Wind aus dieser oder jener Richtung wehe, ob die Wolken den Regen hervorbrächten oder der Regen die Wolken, wohin der Tag sich zurückziehe und wohin sich die Farben flüchteten oder ob sie sich auflösten, von woher der Schlaf komme, all das sei ihm verschlossen, die Welt sei voller Rätsel und zeige sich dennoch wohlgeordnet.

Wo er weder zählen könne noch messen und wohin seine Rechner nicht reichten und nicht seine Künstliche Intelligenz, auf die er sich so viel zugute halte, dort versage ihm die Kraft, spottete Farb, null Reaktion, infantiler Trotz, sagte er, der Mensch sperre sich gegen Dimensionen, die seine mechanische Welt ihm nicht bieten könne, nein, sagte er lachend und griff zu einem Kipferl, mit einem Lamborghini werde er sie nicht erreichen.

Annika lächelte und schenkte Tee nach.

Farbs Blick ruhte versonnen auf dem Drachen, einem mächtigen Geschöpf, und staunte, wie zierlich er war, wie geschmeidig.

Möglich daß wir die Vertreibung aus dem Paradies erleben, sagte Tilman, eine, so hat es den Anschein, nicht endende lange Wegstrecke, und die Zeit, erstarrt, stehe still, oder sie schreite zyklisch voran, oder sie sei gänzlich aufgehoben, und der Mensch verzehre nach wie vor begierig die trügerische Frucht vom Baum der Erkenntnis, anstatt daß er innehalte, sich zu wundern über die Schöpfung, und den Garten akribisch zu pflegen beginne.

| WOLF SENFF

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Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

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Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

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