Er sitzt wieder hoch zu Pferde. Zum zweiten Mal lässt Frank Goldammer den Dresdener Kriminalrat Gustav Heller im späten 19. Jahrhundert zu seinen Tatorten reiten. Der legendäre Großvater von Max Heller, dessen Entwicklung als Mordermittler Goldammer zwischen 2016 und 2023 in acht Romanen verfolgte, bekommt es 1881 mit übersinnlichen Kräften zu tun. In der Stadtrandvilla der Witwe Blumfeld sterben während und nach dort veranstalteten Séancen mehrere Menschen. Für den aufgeklärten Heller steht fest: Etwas ist oberfaul mit der Witwe, ihrem stummen Dienstmädchen Hermina und dem furchteinflößenden Gemäuer, in dem die beiden offensichtlich leichtgläubige Menschen zu Tode erschrecken. Und während sich Kriminal-Assistent Adelbert Schrumm ein ums andere Mal bekreuzigt, geht sein Vorgesetzter furchtlos und mit gesundem Menschenverstand an die Dinge heran. Verhindern kann er allerdings nicht, dass der in der Luft liegende Wahn bald auch seine eigene Familie ergreift. Von DIETMAR JACOBSEN
Mitten in einer Séance, veranstaltet von der Besitzerin einer alten Villa vor Dresdens Toren, kippt einer der anwesenden Gäste um. Der Mann hatte seine Frau begleitet. Die wollte ihm vor Ort beweisen, dass sie keiner Schwindlerin aufgesessen war. Doch nun ist er tot und damit erst einmal ein Fall für Kriminalrat Gustav Heller und seinen Assistenten Adelbert Schrumm von der Königlich Sächsischen Polizei. Doch die beiden finden nichts, was eine weitergehende Beschäftigung mit der Angelegenheit legitimieren würde. Erst als ein knappes halbes Jahr später eine Teilnehmerin an den Séancen der Adele Blumfeld, tot im Dachstuhl von deren Villa hängend, gefunden wird, rückt die Witwe wieder in Hellers Fokus.
Auch bei Melissa Helma Schaarschmidt war ihrem Suizid eine verstörende Erfahrung vorausgegangen. In einer Séance erfuhr sie, dass ihr Mann sie einst mit ihrer besten Freundin betrogen hatte. Sicher ein Skandal. Aber der Mann ist inzwischen verstorben und warum sollte man noch nach dem Tod des Betrügers zum Strick greifen?
Tod in der Geistervilla
Haus der Geister ist nach Tod auf der Elbe (2024) der zweite Fall für einen Mann, dessen Enkel Frank Goldammers Leserinnen und Leser bereits gut kennen. Zwischen 2016 und 2023 hat der Dresdener Autor (Jahrgang 1975) acht Romane um den Kriminalpolizisten Max Heller vorgelegt, die dessen Weg aus der Vorkriegszeit bis in die 1960er Jahre der DDR verfolgten. Dass es gerade die Karriere eines polizeilichen Ermittlers war, die er gegen alle Widerstände von Beginn an anstrebte, hatte Heller dabei nicht zuletzt seinem legendären Großvater und dessen Ruf zu verdanken. Und sich natürlich vorgenommen, genauso unbestechlich, ehrlich und fleißig seinen Job zu erledigen wie der berühmte Ahn.
Nun, im Herbst 1881, muss der sich plötzlich mit einer ganzen Reihe von Erscheinungen auseinandersetzen, die zunächst ziemlich unerklärlich scheinen. Rund um seinen heimischen Hof in dem kleinen Ort Oberpoyritz treibt sich seit Neuestem die »Weiße Frau« herum, deren geisterhaftes Erscheinen zu nächtlicher Stunde, glaubt man den einfachen Leuten aus der Gegend, stets auf kommendes Unheil hingewiesen hat. Hellers Assistent Schrumm leidet unter Schlaflosigkeit, weil in sein kleines Dachstübchen, wie er glaubt, ein Poltergeist Einzug gehalten hat. Bei den Séancen der Witwe Blumfeld kommt immer wieder ein »Rotes Verlies« zur Sprache, was einige Teilnehmer offensichtlich dazu bringt, sich kurz darauf zu entleiben. Und selbst des Kriminalrats eigene Frau Helene, intelligent, tüchtig und nicht zum Aberglauben neigend, lädt einen Wünschelrutengänger ein, in ihrem Anwesen eine Geisteraustreibung vorzunehmen. Denn schließlich kann man nie wissen.
Das »Rote Verlies«
Bei so viel Unheimlichem auf einmal ist es fast verständlich, dass der Kriminalrat immer nervöser wird. Und da er auch ein wenig von aufbrausender Natur ist, läuft es gerade nicht besonders gut zu Hause und auf der Dienststelle. Doch Heller ist ein aufgeklärter Mann, der sich nicht so schnell von eingebildeten Geistern ins Bockshorn jagen lässt. Und obwohl er als Grundkonservativer jeglichem Fortschritt gegenüber eher misstrauisch ist, steht eines für ihn fest: Verstorbene Verwandte, die sich aus dem Jenseits mit nützlichen Informationen für ihre noch lebende Sippschaft melden, gibt es nicht. Und also macht er sich auf, unheimlichen Geräuschen, sich selbständig öffnenden Schranktüren und Tischen, die sich unter den Handflächen bewegen, den Kampf anzusagen, sprich: natürliche Erklärungen für auf den ersten Blick Unerklärliches zu finden.
Unterstützt wird er in seinen Bemühungen, Licht in die mysteriösen Geschehnisse zu bringen, diesmal sogar von seinem geschworenen Feind, dem sächsischen Regierungsrat Posch. Dem und anderen Honorablen aus der guten Gesellschaft der Elbestadt scheint es gar nicht recht zu sein, wenn ihr guter Ruf durch die verschwörerischen Eskapaden ihrer geistergläubigen Ehefrauen Schaden nimmt. Und wenn schon die »Dresdner Volkszeitung«, das immer einflussreicher werdende Blatt der Sozialdemokratie, sich einmischt und den Vorgängen rund um die Witwe Blumfeld und ihre stumme und durch ein schreckliches Unglück grauenhaft entstellte Dienerin immer mehr Aufmerksamkeit widmet, scheint es höchste Zeit, dem Spuk mit allen zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln ein Ende zu bereiten.
Ein stimmiges Bild des späten 19. Jahrhunderts
Und Hellers Hartnäckigkeit und sein Glaube daran, dass hinter allem Hokuspokus immer etwas einfach zu Erklärendes steckt, zahlen sich aus. Denn natürlich trägt er im Kampf mit dem Poltergeist, der seinen leichtgläubigen Mitarbeiter nicht mehr schlafen lässt, den Sieg davon. Und als er sich die Witwe, ihr Dienstmädchen und die unheimlichen Winkel, Ecken und verborgenen Räume ihrer Villa und eines einst von ihrem für tot erklärten Mann geführten Hotels immer wieder vornimmt, sogar an einer der berüchtigten Séancen der Blumfeld teilnimmt und mehrere Male dem Tod nur mit äußerster Knappheit von der Schippe springt, klärt er nicht nur die Hintergründe der aktuellen Todesfälle auf, sondern kommt zudem einem entsetzlichen Verbrechen auf die Spur, in das zahlreiche zahlungskräftige Angehörige der Dresdener High Society verwickelt sind. Dass sich daraufhin die Wogen auch auf seinem Oberpoyritzer Hof wieder glätten, er der »Weißen Frau« in einer Nacht sogar von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und ihr die Leviten lesen kann, versteht sich schließlich fast von selbst.
Auch in Haus der Geister versteht es Frank Goldammer wieder, seine Leserinnen und Leser in eine Zeit mitzunehmen, in der sich vieles im Wandel befand. Die Städte platzten aus allen Nähten. Industrialisierung und wissenschaftlicher Fortschritt gingen Hand in Hand – und das immer schneller. Gleichzeitig mit dem Anwachsen ihrer Zahl vergrößerte sich auch die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft mit ihrer Stellung in der Gesellschaft. Man begann damit, sich zu organisieren und schuf Sprachrohre zum Ausdruck der eigenen Forderungen. Mit einem Wort: Die Moderne hielt endgültig Einzug in eine Welt, die immer weniger Platz für Aberglauben und Obskurantismus hatte.
Dass auch Kriminalrat Gustav Heller und sein Assistent Adelbert Schrumm angesichts all des Neuen zu Innovatoren werden, ist dann letztlich auch nicht mehr verwunderlich. Sie erfinden ganz nebenbei jene Verhörtaktik, die man sich heute angewöhnt hat, die Good cop- bad cop-Nummer zu nennen, wobei Heller den Grimmigen und Schrumm den Verständigen gibt.
Titelangaben
Frank Goldammer: Haus der Geister
München: dtv 2025
382 Seiten. 17 Euro
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