Ein neugieriger kleiner Vogel verheddert in den Fäden eines Webstuhls. Glück im Unglück, denn der steht im Atelier von Anni – und die kann Hans vielleicht weiterhelfen, wie man ein vernünftiges Nest zustande bringt. Von ANDREA WANNER
Was für eine wunderbare Begegnung hat sich die Redakteurin am ›Museum of Modern Art‹ in New York, Emily Hall, da ausgedacht. Das Abenteuer beginnt mit dem etwas ungeschickten Piepmatz und seinem schlampigen Nest, das weder warm hält noch wirklich stabil ist. Klar haben die anderen Vögel eine Menge Tipps für ihn. Ein ganz brauchbarer scheint der, zunächst nach dem passenden Werkzeug zu suchen, auch wenn nichts wirklich passt. Und dann landet er zufällig bei Anni.
Die ist keine andere als Anni Albers, die in den 20er Jahren am Bauhaus in Weimar eigentlich Kunst studieren wolle und dann in der Weberei landet. Genau diese Wechselwirkung zwischen angewandter und freier Kunst wurde Annis Betätigungsfeld, in dem sie es zu wahrer Meisterschaft brachte. Sie wurde zu einer der Schlüsselfiguren der modernen Kunst- und Designgeschichte, interessierte sich für die Geschichte des alten Handwerks und entwickelte innovative Gewebestrukturen, verwendete Materialien und kreierte Muster, die sowohl funktional als auch ästhetisch waren. Und heute finden sich viele ihrer Arbeiten im MoMA.
Und Anni erklärt Hans, was sie macht, was die Idee hinter ihrer Arbeit ist. Dass sie nicht nur schöne, sondern auch nützliche Stoffe weben will, zum Beispiel solche, die Lärm schlucken oder die Privatsphäre schützen. Sie zeigt ihm, wie wichtig die Wahl des passenden Materials ist: »Wenn du den richtigen Faden finden willst, musst du genau wissen, welches Problem du lösen möchtest«. Und sie ermuntert ihn, dass er sich selbst aus dem richtigen Material, das für ihn bestmögliche Nest zu bauen.
Ein Unterkunftsproblem eines Vogels und moderne Textilkunst: Diese beiden Handlungsstränge verknüpft Emily Hall zu einer fantasievollen Geschichte, die viel über eine besondere Künstlerin erzählt. Hinter der liebenswerten Story versteckt sich ein kompetentes Sachbuch, das Lust macht, Stoffe und Textilien, Material und Muster, Farben und Wirkungen genauer zu studieren. Wie aus dem Zusammenspiel von Kett- und Schussfäden echte Kunstwerke entstehen, beeindruckt nicht nur Hans.
Die Illustratorin Victoria Semykina, die 2021 für das Bilderbuch von Luca Tortolini, ›François Truffaut: The Child Who Loved Cinema‹ sowohl den Andersen Award als auch den Nami Grand Prix erhalten hat, hat sich offensichtlich intensiv mit der Kunst von Anni Albers auseinandergesetzt. Wunderschön bereits das Cover, wo Anni hinter den Kettfäden eine begonnene Arbeit zu sehen ist, neben ihr Hans mit einem Faden im Schnabel. Webstrukturen und Fäden ziehen sich durch das Buch, auch in ihrer Farbigkeit inspiriert von den Teppichen, Decken und Werken Albers. Warme Naturtöne, kühles Blau, strahlendes Gelb, gedämpftes Rot: es leuchtet auf den Seiten. Alles wirkt zart und filigran und dennoch stabil. Die Fantasie kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, Neues zu entdecken und auszuprobieren. In diesem Bilderbuch findet man all das, kindgerecht und begeisternd!
Titelangaben
Emily Hall: Anni und Hans. Kunst und Leben mit Schnüren und Weben
(Anni & Bert. A Weaving Story, 2025)
Illustrationen von Victoria Semykina
Aus dem Englischen übersetzt von Nicola von Velsen
Berlin: Hatje Cantz 2025
40 Seiten, 22 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren

